FLMN-Sieg versus "venezolanische Zustände"

Mittwoch, 12. März 2014

Der Stichentscheid bei den Präsidentschaftswahlen vom 9. März ist denkbar knapp, aber dennoch kaum mehr umkehrbar. Der FMLN hat sich mit fast 1.5 Mio. Stimmen und einem Vorsprung von etwas über 6000 Stimmen gegen die rechte ARENA-Partei durchgesetzt. Seit gestern Dienstag früh läuft nun die definitive Auszählung, die ARENA laufend zu sabotieren sucht, parallel zu ihrem nicht gerade überzeugenden Versuch, über militante Strassenblockaden Teile des Landes und der Hauptstadt lahmzulegen. Gestern konnten sie eine Weile lang die Strasse zwischen der Stadt San Vicente und der Panamericana blockieren und in San Salvador wenige hundert Leute an einer Zufahrtstrasse zum Hotel platzieren; heute früh besetzten sie vorübergehend die Panamericana des Hauptstadtvororts Ilopango. Bisher jedenfalls spricht das nicht für einen durchschlagenden Erfolg ihres Versuchs, ein allgemeines Szenario der destabilisierenden Unruhe zu schaffen, analog zu Venezuela nach den Präsidentschaftswahlen letzten Jahres. Dennoch ist die Lage sehr angespannt. Der unterlegene ARENA-Kandidat Normán Quijano hatte in der Wahlnacht die Armee zum Einschreiten aufgefordert, von einem Kampf auf Leben und Tod geredet und die Rechte wird auf jeden Fall alles daran setzen, hier ein „venezolanisches Szenario“ durchzudrücken.

Wahlresultat

Die übereinstimmenden Prognosen von einem FMLN-Kantersieg haben sich nicht bewahrheitet. Während der Frente im ersten Durchgang mit 1.3 Mio. Stimmen (fast 49%) klar vor ARENA (39 %) lag und auf einen Teil der300‘000 Stimmen der drittplatzierten Allianz Unidad (ebenfalls rechts) hoffen konnte, scheinen diese – so eine noch nicht erhärtete Annahme – fast geschlossen an ARENA gegangen zu sein – obwohl eine Reihe von Führungskadern von Unidad zur Stimmabgabe für den FMLN aufgerufen hat. Dieser Interpretation zufolge liess sich die rechte Basis davon kaum beeinflussen – der alte Hass auf die „Terroristen“ war tiefer. Dass ist insofern ernüchternd, als da vermutlich viele Leute dabei sind, die durchaus von den Sozialreformen der Regierung Funes/FMLN profitiert haben.

Unserer Wahlbeobachtungsgruppe (wir waren im landesweit grössten Wahlzentrum, der Feria) fielen die vielen ARENA-Busse auf, die WählerInnen aus einfachen Bevölkerungsschichten heran transportierten . Ein Phänomen, das sich an manchen Orten bestätigt hat. ARENA hatte eine beeindruckende Kapazität an den Tag gelegt, auch noch ihre letzten WählerInnen zur Stimmabgabe heranzufahren. Obwohl die Wahlzentren heute näher am legalen Wohnort der Leute als früher liegen, gibt es immer noch grosse Kontingente der Bevölkerung, die für die Wahlteilnahme auf einen Gratistransport angewiesen sind. ARENA verfügte über deutlich mehr Ressourcen dafür. (Interessant ist, dass handkehrum die Frente-WählerInnen viel mehr in schrottreifen Karren kamen. Vermutlich kann der FMLN die Finanzstärke der Unternehmerpartei in Zukunft nur durch eine gezielte Verstärkung einer Art Transport-Nachbarschaftshilfe ausgleichen.)

Zweifellos war die internationale Medienhetze gegen Venezuela ein gefundenes Fressen für die Rechte hier. Im Kern ist die Desinformation nicht anders als in Europa, nur noch viel brutaler. Das Bild ist: In Venezuela kämpft ein verhungerndes Volk mutig gegen eine faschistische Militärdiktatur – Zustände, die in El Salvador drohen. Es gibt sehr viel anekdotische Evidenz für eine entsprechende Massenbeeinflussung. Viele Gespräche mit Leuten, die klar sagen, die Frente-Regierung sei die erste, die was für sie getan habe, aber Zustände wie in Venezuela wolle man nicht. In einem Land, in dem Hunger und Mangel keine Fremdwörter sind, haben Begriffe wie Rationierung und Unterversorgung einen entsetzlichen Klang. Insofern ist ARENA für den 2. Durchgang doch eine wirksame Angstkampagne gelungen, zusammen mit den ausufernden Berichten über die Kriminalität.

Falls die Annahme stimmt, dass ein Grossteil der Unidad -WählerInnen letztlich für ARENA gestimmt hat, haben beide Parteien zusätzlich noch je rund 200‘000 WählerInnen mobilisieren können. Angesichts eines mit Ausgewanderten und Toten künstlich aufgeblasenen WählerInnenregisters (etwas unter 5 Millionen Eingetragene) eine beachtliche Leistung, die im Fall des FMLN eine weitgehend stetige Aufwärtskurve unterstreicht.

Der Fascho und die Botschaft

Auch wenn das Ergebnis knapp ist, es steht für einen FMLN-Sieg. Nicht von ungefähr rief ARENA-Kandidat Quijano noch in der Wahlnacht vom letzten Sonntag, dem 9. März 2014, die Armee zum Eingreifen auf (s. Prensa Gráfica, 10.3.14) und versucht seine Partei seither, die gesetzlich vorgeschriebene definitive Auszählung zu sabotieren. Der Aufruf zum Putsch ging in die Hosen. Parlamentarische Pseudolegitimierungsmechanismen wie in Honduras oder Paraguay sind angesichts der Qualität des FMLN nicht gegeben. Die US-Botschaft hat ARENA wohl noch in der gleichen Nacht zurückgepfiffen, am Montag hatte sie einen Aufruf zur Ruhe publiziert. Sogar das rechtsradikale ARENA-Blatt El Diario de Hoy versteckte den Aufruf in nichtssagenden Sätzen auf den hinteren Seiten.

Die US-Botschaft weiss um die Schwäche eines faktischen Aufrufs zum Krieg in einem Land, in dem die Leute auf jede Chance setzen, der pervasiven Gewalttätigkeit im Alltag zu entfliehen. Sie dürfte auf eine raffiniertere Alternative setzen: Entweder würde sich die Regierung unter Salvador Sánchez Cerén (FMLN) angesichts des knappen Resultats, der permanenten Druckmanöver der Rechten und der Einflüsterungen „aufgeklärter“ Geister auf einen Washington-hörigen Kurs verpflichten lassen oder aber das „venezolanische Szenario“ würde mit einem schwachen Anschein von Legalität und Legitimität verstärkt werden. Viele Ereignisse der letzten Wochen, speziell aber der letzten Tage, deuten auf diese zweite Möglichkeit hin.

Wahlgesetz – wofür?

Nach dem der Aufruf zum Putsch fürs Erste ins Wasser fiel, kam ARENA am folgenden Montag mit einer neuen, anscheinend demokratischeren Forderung daher: Neuauszählung aller Stimmen. Um dies einordnen zu können, braucht es einige Infos: Von über 10‘200 Wahltischen konnten die Akten von ganzen 14 Wahltischen nicht in die vorläufige Auszählung aufgenommen werden, sei es, w eil der gesetzlich notwendige Stempel der Wahltisch-Behörde (je 2 VertreterInnen der beiden Parteien) fehlte oder etwa weil es zur Stimmenanzahl von ARENA schlicht keine Angabe gab – wohl verstanden in der von VertreterInnen der beiden Parteien unterschriebenen Akte. Das Oberste Wahlgericht TSE gab am Montag in einer nationalen Mediensendung detailliert über die Umstände bei diesen 14 Akten Bescheid. Zusätzlich zu 7 Fällen, in denen die Resultate falsch eingetippt wurden. Je nach Lage der Dinge würden diese Fehler bei der definitiven Auszählung durch Vergleich mit den Akten in den Händen der Parteien, der Staatsanwaltschaft und Ombudsstelle für Menschenrechte, die wie das TSE über Kopien aller Wahltisch-Akten verfügen oder durch Öffnen der entsprechenden Urnen (bei fehlenden Angaben auf der Akte) behoben werden. Wie andere durchaus noch mögliche Tippfehler, die für die Parteien jederzeit leicht eruierbar auf der Webseite des TSE zu finden sind. All das verändert aber das Wahlresultat nicht gross.

Zusätzlich gibt es etwas über 4000 angefochtene Stimmen, über deren Gültigkeit sich die beiden Parteien an den Wahltischen nicht einen konnten (bei fast 3 Mio. Stimmen). Das Wahlgesetz sieht klipp und klar vor, dass die entsprechenden Wahlzettel in der definitiven Auszählung nur bewertet werden, wenn ihre Gesamtzahl die Differenz der beiden Kontrahenten übersteigt – das ist nicht der Fall. Von einer gesamten Neuauszählung weiss das Wahlgesetz eh nichts, auch nichts von einer Wiederholung einer Wahl, wie sie ARENA gestern Dienstag forderte, ausser in Fällen, dass aufgrund von Erdbeben, Kriegen o. ä. eine Wahl nicht ordnungsgemäss hätte durchgeführt werden können. Durch die Präsenz aller an den Wahlen beteiligten Parteien in allen relevanten Instanzen der Wahlbehörden – vom einzelnen Wahltisch zum TSE und dessen verschiedenen Armen wie der Logistikabteilung etc. – ist, unter bestimmten Umständen, im Sinne von checks and balances eine Transparenz des Wahlvorgangs gegeben, tatsächlich eher als in einem angeblich parteilosen, von daher weniger transparenten System der Wahlorganisation. Zu den erwähnten „Umständen“ gehört allerdings klar, dass die Parteien über die Kapazität verfügen, alle Instanzen mit geschulten und loyalen Leuten zu besetzen. An Phänomenen wie Stimmenkauf oder Wahlmanipulation via Desinformation ändert das natürlich nichts. Hier sind andere Kapazitäten – der permanenten Schulung und Mobilisierung – gefordert. Jedenfalls ist die Tendenz zu laufend weniger umfassendem Wahlbetrug seit dem Friedenschluss von 1992 eindeutig.

Die Logik der Destabilisierung

Im Wahlgesetz gibt es keine allgemeine Neuauszählung und auch, bis auf die skizzierten Fälle, keine Wiederholung der Wahlen. Was es in der definitiven Auszählung dagegen gibt, ist ein Vergleich Akte für Akte (von den konkurrierenden ParteivertreterInnen unterschrieben) - und zwar der Akte im Besitz des TSE und der Kopien der Parteien, der Staatsanwaltschaft und Menschenrechtsstelle – mit den Zahlen im Rechner des TSE. Eine Öffnung der Urnen kann nur im oben beschriebenen Fall einer die Stimmendifferenz übertreffenden Anzahl angefochtener Stimmen oder bei Widersprüchen in der Akte erfolgen. Die Forderung nach einer generellen Neuauszählung verlangt etwas Extralegales, also Illegales. Natürlich weiss ARENA das. Die Logik dahinter ist die Schaffung von Unruhe, von Zweifel, von Betrugsstimmung.

Mustergültig demonstrierte sie das gestern und zeigt es heute. Gestern Nachmittag - die definitive Auszählung war schon gut vorangekommen – verliessen ihre Mitglieder die Auszählung – unter „Protest“ gegen den „Wahlbetrug des TSE und des FMLN“. Detail: Von Rechts wegen müssen ihre VertreterInnen in den zuständigen Instanzen des TSE an der definitiven Auszählung teilnehmen. Ein klarer Rechtsbruch. Quijano verlangte Neuwahlen, u.a., weil Präsident Mauricio Funes vor den Wahlen Propaganda betrieben habe. Komme es nicht dazu, würde sich ARENA an die Verfassungskammer des Obersten Gerichtes wenden (zu dieser Kammer siehe die letzten Einträge zu El Salvador). Nun machte das TSE das, was es von Gesetz wegen tun musste: Es berief zu einer neuen Sitzung der Auszählungstische um 8h abends ein, bei der die Auszählung mit oder ohne ARENA-Präsenz weitergehen würde (unter Beteiligung der Staatsanwaltschaft etc.). Gleichzeitig kündete das TSE Mediationsdienste der OAS und der Menschenrechtsstelle an. Um 8h glänzte ARENA durch Abwesenheit, die definitive Auszählung ging weiter. Etwas später ging ARENA auf einen Vermittlungsvorschlag der OAS und der UNO (UNDP) ein, wonach die Auszählung ab heute morgen weitergehe. Das TSE willigte ein, und zeigte sich bereit, die8-Uhr- Auszählung zu wiederholen. Dem „Vermittlungsvorschlag“ war hinter den Kulissen eine klare Intervention der US-Botschaft bei ARENA vorangegangen.

Weiter im Text

Seit heute früh geht das „Verwirrspiel“ weiter. Tatsächlich hat sich ARENA unter Botschaftsaufsicht an der definitiven Auszählung beteiligt, dergestalt nämlich, dass die 7 Departemente, die sie gewonnen hat, schon mit formalisierten Resultaten abgeschlossen sind im Gegensatz zu den 7 Departementen, in denen der Frente vorne liegt und bei denen sie das Resultat verzögert. Etwa, indem ihre Leute an den Tischen wiederholt und lange den Raum verlassen. Soeben gab das TSE bekannt, von nun nur noch vorgesehene Pausen zu bewilligen und die Auszählung zu allen anderen Zeitpunkten fortzusetzen, unabhängig von der ARENA-Anwesenheit oder nicht. Heute Mittag haben die grossen Medien die Siegesnachricht von ARENA verbreitet und damit natürlich Triumphstimmung bei der Rechten und grosse Sorge bei den Unseren verursacht. Das Detail mit den 7 Departementen ist dabei nicht erwähnt worden. Gut möglich, dass sich die ARENA-VertreterInnen in der einen oder anderen Form definitiv sperren werden, die übrigen Resultate, die dem Frente den nationalen Sieg geben, zu unterschreiben. So oder so haben sich eine neue Vorlage für ihr Betrugsgeschrei geschaffen, national und international. Bis spätestens morgen sollte das TSE das definitiv Resultat bekanntgeben (abgesehen von einer möglichen Frist für die Beantwortung eines zu erwartenden ARENA-Rekurses für Neuwahlen).

Das Ganze läuft immer deutlicher auf den Versuch hinaus, „venezolanische“ Zustände in El Salvador heraufzubeschwören. Heute hat Quijano anscheinend den rechtsradikalen, mittlerweile einsitzenden Anführer der militanten Angriffe in Venezuela, Leopoldo López, als Vorbild genannt. Das Ganze basiert auf der Behauptung eines Wahlbetrugs. ARENA behauptet, ihren Akten zufolge zig-tausend Stimmen mehr zu haben – sie legt diese Akten nur nicht vor. Heute behauptet Quijano, Beweise für mindestens 20‘000 Fälle von FMLN-Mehrfachwählen zu haben – kein Hauch von vorgelegter Beweis. Usw. Als einzig überhaupt materielles Element dient ihnen der Hinweis, dass sie im TSE derzeit über keinen Magistraten verfügen. Das stimmt, weil der bis nächstes Jahr gewählte Magistrat Walter Araujo, ehemaliger ARENA-Fraktionspräsident, sich letztes Jahr von ARENA zu Unidad abgespalten hat. Sein Stellvertreter allerdings nimmt als ARENA-Vertreter weiter an den TSE-Aktivitäten teil und hat sich vom illegalen Vorgehen seiner Partei abgegrenzt.

Bisher rechte Photo-Opps

Ein Wort noch zu den Strassenmobilisierungen von ARENA., von denen auch in den ausländischen Medien die Rede ist. Es handelt sich dabei um Foto-Opps, damit die TV-Sender Bildmaterial haben. An die angekündigte Grossmobilisierung von ARENA heute beim TSE sind etwa 500 Leute gekommen, Futter für die tendenziösen Medien, keine Spur von massivem „Bürgerprotest“. Wie die rechten Mobilisierungen nach der absehbaren Ausrufung des FMLN-Kandidaten zum gewählten Präsidenten aussehen, werden wir sehen.

Aus ZAS / Correos