Der Rücktritt - persönlicher Rückschlag und gesellschaftliches Symbol

von Martin Block, Göttingen

Die EKD-Ratsvorsitzende und Landesbischöfin der Hannoverschen Landeskirche Dr. Margot Käßmann ist vor wenigen Tagen von ihren Ämtern mit sofortiger Wirkung zurückgetreten. Der Grund war das Überfahren einer roten Ampel unter Alkoholeinfluß. Ein eindeutiges Fehlverhalten, das sie nicht zu verheimlichen oder zu beschönigen suchte, sondern für das sie schnell und konsequent die Folgen auf sich nahm: Rücktritt. Käßmann sah ihre Glaubwürdigkeit als Repräsentantin der EKD in Gefahr und suchte weiteren Schaden von Person und Amt abzuwehren. Dies ist ihr mit diesem völlig überraschenden Karriereknick auch gelungen, leider gelungen muß man sagen in Anbetracht ihrer ermutigenden und zukunftsweisenden Arbeit seit 1999 in Hannover und seit Oktober 2009 in Berlin.

Margot Käßmann lebte und lebt ihre mutige und konsequente Theologie durchgängig. Sie ist lutherisch, sie ist feministisch, sie ist ökumenisch, sie ist politisch. Alles auf eine Art und Weise, die die überkommenen "Lutherröcke" der Vergangenheit, wie Professorin Haberer aus Erlangen es formulierte, zu überwinden half. Offen, kommunikativ, kompetent, entschlossen und eben konsequent ging sie in einer immer noch stark männergeleiteten Kirche ihren Weg und verdiente sich erste Sporen in der Kirchentags - und Ökumenearbeit. Sie stieg schnell auf und wurde 1999 mit 41 Jahren die jüngste Bischöfin in Deutschland aller Zeiten. dass ihre ganze Einstellung keineswegs einer modischen Haltung entsprang, merkte man im persönlichen Gespräch mit ihr, in ihren Predigten, ihrem Verhandlungsgeschick und ihrer seelsorgerlichen Begabung. Man warf ihr vor, zu sehr in den Medien präsent gewesen zu sein. Dieser Vorwurf ist vermutlich der einzige, der stichhaltig sein könnte. Weniger wäre hier tatsächlich mehr gewesen.

In all dem Medienrummel um ihren überraschenden Rücktritt und die Beurteilung ihrer Person und Arbeit scheint aber die Einordnung in das größere Ganze noch kaum geleistet worden zu sein. Es gibt von Alice Schwarzer und der ehemaligen Bischöfin Wartenberg-Potter bereits den Verweis auf das "Neidgesicht des Sexismus" in unserer Gesellschaft. Dies ist ein durchaus zutreffender Hinweis, denn Margot Käßmann ist durchaus auch an Neidern und Kürzergekommenen gescheitert, natürlich auch an Männern. Das ist so richtig wie als Erklärung noch nicht weitreichend genug Man muß weitergehen und den Rückschlagscharakter und das tief Symbolische dieses Rücktritts beziehungsweise der vorangehenden Fehlhandlung betonen. Rückschlag, weil eine ziemlich begabte Theologin gescheitert ist. Rückschlag auch, weil das Neue und Zukunftsweisende dieser "toughen" Frau mit einem Schlag gefährdet zu sein scheint. Rückschlag zum dritten, weil der Muff unter den Talaren nicht weiter tatkräftig entsorgt wird, sondern sich nun wieder weiter ansammeln kann.

Käßmann ist nicht nur eine "Jung-68erin", sie geht über deren Anliegen hinaus. Es ging ihr um den rechten Gottesdienst, darum, dass es nicht zwei voneinander getrennte Welten, die göttliche und die menschliche, gibt, die sich nur sonntags begegnen. Eine solche Zweireichelehre erlaubt nämlich, dass die Wirklichkeit, die unserem Denken und Handeln zugrundeliegt, nicht mehr reflektiert wird. So werden Zustände hingenommen, die sich herrschaftsförmig auf unser aller Herz und Hirn legen, um beide zu lähmen oder gar zu ersticken. Eine solche Zweireichelehre erlaubt eine Ordnung und Geltung, wie wir sie kennen: in Arbeit, Produktion und Freizeit funktionieren wir nach Marktkriterien, nach strengen Selektionsmaßstäben, nach Go's und No Go's, nach Gewinn und Verlust. Im Privatleben aber werden wir entschädigt, "belohnt" für die Mühen der Arbeitsfron. Peitsche und Zuckerbrot. Diese sattsam bekannten Zuordnungen und Ausschließungen, weiter bezogen auf Rasse, Geschlecht, Religion oder Bildung, waren Käßmanns Sache nie. Ihr schwebte die eine Welt Gottes im Sinne des konziliaren Prozesses vor. Am Reich Gottes als guter Schöpfung in Gerechtigkeit und Frieden mitarbeiten - mit Leib und Seele.

Ist sie an dieser Vorstellung nun gescheitert? Am eigenen Anspruch? An der eigenen Theologie?

Millionen sind der Überzeugung, dass sich Käßmann selbst den Untergang bereitet hat. Hätte sie nicht getrunken, hätte sie ungestraft Auto fahren dürfen. Wäre sie nicht bei Rot über die Ampel gefahren, wäre sie nicht angehalten worden. Alles eigene Schuld - und mehr ist nicht zu sagen. Zugegeben, z u n ä c h s t ist das ganz richtig. Aber beantwortet das wirklich die Frage des Scheiterns? Dazu bedarf es anderer Horizonte.

Der Horizonte, die ich ein wenig deutlicher skizzieren möchte.

Das Überschreiten einer roten Ampel drückt das Übertreten eines Verbots aus. Davon gibt es Tag für Tag Millionen von Einzelfällen. In meiner Interpretation aber kann dieses Übertreten durchaus auch als das Übertreten von Gottes Schöpfungsordnungen verstanden werden. Wir verletzen gegenwärtig Gebote und Gesetze im gesamtgesellschaftlichen Bereich in den überhandnehmenden Krisen in der Welt so eklatant, dass wir - im übertragenen Sinne - die politökonomischen roten Ampeln tagtäglich donnernd überfahren. Unsere Welt ist nicht gerecht, sozial oder friedvoll. Unsere Welt steht auf dem Kopf, denn nicht Gott, sondern der Mammon steht an erster Stelle. Nicht der Mensch, sondern der Profit. Laut unserem Außenminister, Gegenpart zu Käßmann, zum Wohle aller, aber das haben schon sehr viel früher sehr viel Schlauere sehr viel prägnanter gesagt. Unser Außenminister kann sich als das, was er ist, gar nicht sehen und fühlen, dazu fehlen ihm Verstand und Vision: er ist die Wiederholung der Geschichte, die nach Marx immer entweder nur Tragödie oder Farce sein kann. Westerwelles Wiederholung ist allerdings von einer eindrucksvollen Penetranz und einer permanenten Ignoranz - das macht ihm so schnell keiner nach, dafür chapeaux.

Zurück zur roten Ampel. Käßmann hat, in meiner Interpretation, symbolisch unsere täglichen Grenzüberschreitungen in Wirtschaft, Politik und alltäglichem Leben aufgezeigt. Unfreiwillig, unbewusst-und völlig erschrocken über das eigene Fehlverhalten. Wie war so etwas möglich? Wie konnte so etwas einer so intelligenten, verantwortungsvollen Theologin überhaupt passieren? Es passierte eben - aber zeigt mehr als nur das relativ banale einzelne Ereignis von Person X am Ort Y mit Beifahrer XY.

Es zeigt auf spezifische Weise etwas, was uns alle angeht. Nicht in der Weise der Zeigefingerpädagogik "Das macht man nicht", sondern in plötzlich aufscheinender Klarheit über unsere gesellschaftliche Wirklichkeit. Der nun wahrscheinlich kommende Vorwurf der Konstruiertheit dieses Zusammenhangs trifft nicht, da im Fehlverhalten dieser Einzelperson und dem der Gesellschaft eine kaum zu übersehende Ähnlichkeit vorliegt.

Käßmann hat auch in ihrer Übersprungshandlung auf das Größereganze hingewiesen. Es war eine Zeichenhandlung, eine symbolische Verweisung auf den himmelschreienden Zustand unserer Welt, der so nicht bleiben soll. Unfreiwillig, ungewollt - aber umso wirkungsvoller.

Der israelische König David, der einen seiner Soldaten im Kampf sterben ließ, um etwas mit dessen Frau Bathseba anzufangen, musste erst vom Propheten Nathan auf seine Schuld hingewiesen werden. "Du bist der Mann!" Bei Käßmann ist es ein unvergleichlich geringeres Vergehen - das gleichwohl tödlich hätte ausgehen können.

Aber Käßmann ist dem David voraus: sie weiß sofort um ihre Schuld - und tritt zurück. Keine doppelte Welt - keine doppelte Moral. Ein Neuanfang ist möglich. Ihr Anspruch bleibt - denn sie hat die Konsequenzen gezogen. Auch wir sollten unsere Schuld zugeben - und von einem tödlichen Wirtschaftssystem, genannt Kapitalismus, Abstand nehmen. Rücktritt vom Profitzwang!

Sicherlich geht das nicht von einem Tag auf den anderen, wie bei der Bischöfin. Aber wohl doch innerhalb eines längeren Zeitraums - und dann wäre sogar noch der Rücktritt von Margot Käßmann mutmachend.