Badehose statt Regenschirm

Mit fetten Schlagzeilen hetzt BILD fast tagtäglich gegen "Hartz IV Betrüger" und liefert damit die Begleitmusik zur unsäglichen Sendung sogenannter 'Sozialdetektive' in der privaten TV-Dreckschleuder Sat 1. Über die Gehälter der Chefs von Bild und Sat 1 hört und sieht man nichts. Kein Wunder; denn dann würde offenbar, wer die wirklichen Betrüger und Abzocker sind, denen gegenüber die Einkommensaufbesserungen einiger weniger Harz IV Empfänger durch inkorrekte Angaben lächerlich und vernachlässigenswert sind. Wie gezielt blind die Bild- und Sat 1- Volksverhetzer auf ihrem reichen Auge sind, konnte ich beim Einkauf in einem Supermarkt am 30.8.2008 sehen. Schon von weitem stach mir die Hartz-Hetz- Schlagzeile der Bildzeitung ins Auge. Beim näher Kommen schaute ich mir dann die darunter liegende - inzwischen wohl auch sehr bürgerliche - Frankfurter Rundschau - genauer an und entdeckte auf deren Titelseite eine kurze Notiz darüber, dass der neue Chef der Kreditanstalt für Wiederaufbau mit 815. 201 Euro im Jahr fast doppelt soviel kassiert wie seine Vorgängerin - Diese erhielt mit 466.000 Euro schon eine Summe, die ein Hartz IV Empfänger nicht einmal dann erreicht, wenn er ein ganzes Leben lang auf Hartz angewiesen wäre. Doch davon schweigen die Hart IV Hetzer beredt.

Wofür erhalten die Damen und Herren so viel Geld? Damit sie mit öffentlichen Mitteln die von ihren Managern durch Fehlspekulation an die Wand gefahrene Privatbank IKP retten mit der lächerlichen Summe von bis jetzt ca. 9 Mrd Euro. Da müssten sich Hartz IV Aufbesserer schon gewaltig ins Zeug legen, um auch nur entfernt an derartige Summen heranzukommen. Vom Splitter im Auge des Nächsten mit dem man vom Balken im eigenen ablenkt, erzählte vor fast 2000 Jahren einer im fernen Galiläa, das von der römischen Besatzungsmacht drangsaliert wurde, wie heute Irak und Afghanistan von den US Truppen und deren Verbündeten. An der Verkommenheit der Herrschenden und ihrer Lakaien hat sich in 2000 Jahren nichts Grundsätzliches geändert.

Die Hetze der Herrschenden darf jedoch keineswegs als deren etwas perverses Hobby verkannt werde. Sie dient der Aufrechterhaltung des bestehenden Ausbeutungssystems durch Spaltung. Der Zorn wird abgelenkt und die Kraft des Widerstandes geschwächt, indem die unten gegeneinander ausgespielt werden. Leider fallen viele noch auf die üble Hetze rein und bezahlen sogar dafür, dass sie sie lesen dürfen. Die Vorteile der Hetze kassieren die Damen und Herren auch in Euro und Zent: Alles, was sie bei denen unten einsparen, könne sie in die eigene Tasche stecken, für Investitionen verwenden, von denen sie noch mehr Profit erwarten. Militär und Polizeiapparat, mit denen doch aufkommender Widerstand im Landesinnern und weltweit bewaffnet niedergehalten werden soll, kosten Unsummen, die gefälligst diejenigen, deren Widerstand man brechen muss, bezahlen dürfen.

Da offenkundig auch die eifrigsten Sozialdetektive nur geringe Summen aus angeblichem oder auch wirklichem Missbrauch einbringen, werden größere und effektivere Geschütze aufgefahren. Der Professor für Finanzen an der Uni Chemnitz F. Thießen und sein Mitarbeiter, der Diplomkaufmann C. Fischer halten "132 Euro Arbeitslosengeld II im Monat für das Minimum einer Existenzsicherung" (AOL 5.9.08 in Zusammenarbeit mit Welt online) Früher einmal hieß Chemnitz 'Karl Marx Stadt'! Doch das ist schon lange her. Vielleicht sollte man konsequent sein und die Stadt jetzt in 'Milton Friedmann City' umbenennen oder zumindest ihre Universität mit dem Namen dieses Brutalokapitalismuspatrons ehren.

132 Euro, d.h. fast zwei Drittel des jetzigen Hartz IV Satzes von 351 Euro können eingespart werden. Welch glanzvolle Aussichten. Und die Einsparungen dienen sogar noch der Gesundheit der Hartz IV Empfänger; denn Alkohol und Zigaretten könne sie sich von den 132 Euro nicht leisten und sollen sie auch gar nicht, schreiben die Chemnitzer "Wissenschaftler" und begründen das auch in ihrer Tabelle: "Kein Alkohol und Tabak, da gesundheitsschädliche Wirkungen und damit das Ziel der Sozialhilfe nach 'Hilfe zur Selbsthilfe' verletzt wird." (S.10) Für Gaststättenbesuch setzen die beiden Herren keinerlei Ausgaben an; denn bei einer "Freizeitgestaltung in Form von Gesprächen, Spaziergängen, Nutzung von Parks, Teilnahme an öffentlichen Festen" (S.11) fallen ja keine Kosten an. Auch gegen Nutzung von frei zugänglichen Badeseen haben unsere Sparwissenschaftler nichts. Eine Badehose bzw. Badeanzug für Mädchen und Frauen billigen sie HartzIV-Empfängerinnen zu, nicht jedoch "Bademantel, Bademütze". Spaziergänge sind aber nur dann vorgesehen, wenn es nicht regnet, weil Anspruch auf einen Regenschirm hat der künftige HartzIV-Mensch nicht. Niemand hindert den HartzIV-Menschen jedoch daran, halt bei Regen in Badehosen spazieren zu gehen, weil das härtet ab, stärkt die Widerstandskraft, ist also gesund, erfüllt so "das Ziel der Sozialhilfe nach 'Hilfe zur Selbsthilfe' und spart nebenbei noch Arzt- und Medikamentenkosten.

Man darf sich nicht davon täuschen lassen, dass die Kriegskanzlerin Angela Merkel die Chemnitzer Studie in Bild am Sonntag als "unverantwortlich" ablehnte. Sie wird sich in nicht allzu ferner Zukunft ihrer Verantwortung bewusst werden. Dafür sorgen Kapitalfunktionäre und Chefideologen. Der prominente CDU-Politiker Friedrich Merz "bedauerte, dass die Chemnitzer Studie über einen geringeren Sozialhilfesatz als ausreichende Versorgung so schnell abgekanzelt worden sei" und erklärt unverfroren zynisch "dass manchmal weniger mehr ist." (aol.de in Zusammenarbeit mit weltonline, 12.9.08) Dieser Satz gilt natürlich nicht für ihn und seine diversen Einkommen! In Bild am Sonntag setzt sich a "Thomas Straubhaar, Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitutes" für einen niedrigeren HartzIV Regelsatz ein. Er erzählt das altbekannte Ökonomenlügenmärchen: "die Erwerbslosigkeit werde bei geringeren Sozialleistungen sinken." (Junge Welt 8.9.08) in einer aktualisierten Fassung: "Bei einem niedrigeren Hartz-IV-Regelsatz würde sich eigene Arbeit vergleichsweise besser lohnen und der Anreiz arbeiten zu gehen wäre stärker". Lügen haben bekanntlich kurze Beine und werden auch durch noch so viele Wiederholungen und Aktualisierungen nicht wahrer.

Bei solch geballter wissenschaftlicher Kompetenz kann die Steinmeier-Münte-Schröder-SPD nicht abseits stehen. Bundesarbeitsminister Scholz will dafür sorgen, dass "Krankmeldungen häufiger überprüft und Schwarzarbeit effizienter aufgedeckt werden. (JW 8.9.08)

Davon dass mehr Steuerprüfer eingestellt werden, um die Wanderungsbewegungen inhaltsreicher schwarzer Koffer in befreundete europäische und außereuropäische Kapitalzufluchtsorte zu unterbinden oder wenigsten einzudämmen hört man von den sozialdemokratischen Kapital- und Managerfreunden nichts.

Neid- und Rachegedanken lassen mich nachts immer wieder träumen von einem hohen Gericht, dass all diese Herren zu 132 Euro Hartz IV auf Lebenszeit verurteilt und sie dann noch regelmäßig öffentlich an den Pranger stellen lässt, wenn sie damit unzufrieden sind anstatt dem großmütigen Sozialstaat kniefällig zu danken. Ein verständlicher und tröstlicher Traum.

Meine nicht nur im Traum realisierbare Hoffnung, dass es doch in nicht allzu ferner Zukunft gelingt, Kapitalisten, Manager und ihre ideologische Wasserträger zu enteigenen und die Produktionsmittel zu vergesellschaften. Für die Schlüsselindustrien fordert dies ja schon die noch immer gültige antifaschistische Verfassung von Hessen.

Reinhold Fertig

Die komplette Chemnitzer Hartz Studie gibt es im Internet als PDF-Datei:
www.tu-chemnitz.de/wirtschaft/bwl4/interessantes/Soziale Mindestsicherung 2008 komplett.pdf