Vom Menschen fischen im Zeitalter des Privatfernsehens

Das Phänomen Castingshow

Fernsehsendungen, die vorgeben neue Talente entdecken zu wollen, sind keine Erfindung der Privatsender. Seit den 1950er Jahren findet im deutschen Fernsehen eine öffentliche Talentsuche statt und auch in der DDR war das "Herzklopfen kostenlos". Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wird in Deutschland allerdings gecastet.

Das englische "to cast" heißt neben "besetzen" auch "fischen". Aber der von den Privatsendern an fragwürdig qualifizierte Juroren ergangene Auftrag, Menschen zu fischen hat mit der im Lukasevangelium (5, 1-11) beschriebenen Aufforderung nur wenig gemeinsam.

Die Frage nach fairem Umgang mit den angeblich künftigen Topmodels oder Superstars und ihren MitstreiterInnen wird häufig abgetan mit der Begründung, diese wären nicht zur Teilnahme gezwungen worden und hätten sich somit mit öffentlicher Demütigung ihrer Person, die alle Aspekte von Stimme über Körperform bis zur Kleidung umfasst, einverstanden erklärt. Jedoch besteht das eigentliche Problem nicht (nur) darin, ob der oder die Einzelne von der Begegnung mit einer vermeintlichen Expertenrunde, die vor einer breiten Öffentlichkeit an den Fernsehern daheim stattfindet, bleibende Verletzungen davonträgt. Und auch die Bewerbungen von 20.000 jungen Frauen, die sich aus der Teilnahme an einer Sendung eine Modelkarriere erträumen sind fast nebensächlich.

Vielmehr bedenkenswert ist die Frage, welchen Einfluss das Gesehene und in anderen Medien weiterverbreitete auf das alltägliche Miteinander, auf die Bewertung des eigenen Körpers und der eigenen Eigenschaften und die der anderen Menschen hat.

So hat beispielsweise die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) RTL mehrfach gerügt und Bußgelder gefordert wegen wiederholter Jugendschutz-Verstöße in deren Sendung "Deutschland sucht den Superstar". Zu Begründung hieß es, dass in der Sendung fragwürdige Verhaltensweisen - wie vor allem die Beleidigungen durch die so genannte Jury - präsentiert würden, die gängigen Zielen der Kindererziehung z.B. zu Toleranz und Respekt im Umgang mit anderen widerspreche.

Und auch die Suche nach dem nächsten Topmodel unter Kandidatinnen, die auch wenn sie über 20 Jahre alt sind, noch als "Mädchen" angeredet werden, ist von MedienexpertInnen, JournalistInnen und nicht zuletzt ÄrztInnen immer wieder kritisiert worden. Die Teilnehmerinnen werden als Waren, die an den Modemarkt zu bringen sind, behandelt, deren Körpermaße für jede(n) im Internet nachlesbar sind. Und nach einer Umfrage unter Jugendlichen von 6-22 Jahren sind 60 Prozent der Befragten der Meinung, die Moderatorin der Sendung zeige in ihrer Show, "wie man sein muss, um beruflich erfolgreich zu sein" .

Noch älter als die ersten Talentsuchen im deutschen Fernsehen ist die Kritik an solchen, die Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrem 1944 in New York erschienenen Werk "Dialektik der Aufklärung" formulierten. Der darin enthaltene Aufsatz "Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug" präsentiert sich angesichts der aktuellen Fernsehlandschaft mit erschreckender Aktualität.

So heißt es dort: "Nicht zu jedem soll das Glück einmal kommen, sondern zu dem, der das Los zieht, vielmehr zu dem, der von einer höheren Macht - meist der Vergnügungsindustrie selber, die unablässig auf der Suche vorgestellt wird - dazu designiert ist. Die von den Talentjägern aufgespürten und dann vom Studio groß herausgebrachten Figuren sind Idealtypen des neuen abhängigen Mittelstands. Das weibliche Starlet soll die Angestellte symbolisieren, so freilich, daß ihm zum Unterschied von der wirklichen der große Abendmantel schon zubestimmt scheint. So hält es nicht nur für die Zuschauerin die Möglichkeit fest, daß sie selber auf der Leinwand gezeigt werden könnte, sondern eindringlicher noch die Distanz. Nur eine kann das große Los ziehen, nur einer ist prominent, und haben selbst mathematisch alle gleiche Aussicht, so ist sie doch für jeden Einzelnen so minimal, daß er sie am besten gleich abschreibt und sich am Glück des anderen freut, der er ebenso gut selber sein könnte und dennoch niemals selber ist." (S. 153f.)

Heute werden nicht nur Angehörige des Mittelstands als Identifikationsfiguren dargeboten, sondern zunehmend Menschen aus unteren Einkommens- und Bildungsschichten. Damit werden einerseits die Identifikationsmöglichkeiten des weite Teile der Bevölkerung abdeckenden Publikums erweitert, aber vielleicht in erster Linie das Überlegenheitsgefühl der Zuschauenden gestärkt und die KandidatInnen als Witzfiguren für die Presse benutzt.

"Sie sind so sehr bloßes Material, daß die Verfügenden einen in ihren Himmel aufnehmen und wieder fortwerfen können: mit seinem Recht und seiner Arbeit kann er vertrocknen." konstatieren Horkheimer und Adorno (S. 155).

Und das Tempo dieser Industrie beschleunigt sich immer mehr. Jede Sendung verspricht den kommenden Star zu produzieren und schweigt von dessen schneller Vergänglichkeit, was die Bereitschaft, der KandidatInnen sich öffentlich peinigen zu lassen noch rätselhafter erscheinen lässt.

Das von der Kulturindustrie propagierte Menschenbild wirkt sich bis in das Innerste der damit konfrontierten Menschen aus, die versuchen, "sich selbst zum erfolgsadäquaten Apparat zu machen, der bis in die Triebregungen hinein dem von der Kulturindustrie präsentierten Modell entspricht". Als Konsequenz folgt: "personality bedeutet ihnen kaum mehr etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen." (S. 176)

Noch bevor einschlägige Bildbearbeitungsprogramme jeden vermeintlichen Makel an menschlichem Äußeren geglättet haben und von jedem Werbeplakat ein unerreichbares Schönheitsideal nicht nur zum Kauf Schönheit und Erfolg versprechender Produkte mahnt, sondern vor allem die Unzulänglichkeit des unbearbeiteten Körpers vorführt, formulierten die Philosophen und Soziologen im amerikanischen Exil: "In den synthetisch hergestellten Physiognomien heute ist schon vergessen, daß es einmal den Begriff des Menschenlebens gab." (S.165)

Die von der Kulturindustrie hergestellten Produkte produzieren, disziplinieren und steuern wiederum die menschlichen Bedürfnisse und versklaven die Menschen somit umfassend, denn: "Die ganze Welt wird durch das Filter der Kulturindustrie geleitet"(S.134).

Nein, niemand muss an einer Castingshow teilnehmen, sie ansehen oder die Berichterstattung dazu verfolgen, aber wir alle müssen in einer Gesellschaft leben, in der die willkürliche Auswahl und Präsentation und Ernennung zu "Stars" ein Menschenbild propagiert, das vorgibt, Leistung und Talent würden zu Erfolg führen.

Immer wieder wird suggeriert, eigene Anstrengung und Ausschöpfung des persönlichen Potentials könnten aus jeder/m den Star von morgen machen und die KandidatInnen werden zu Vorbildern "für die Menschen, die sich selbst zu dem machen sollen, wozu das System sie bricht. Jeder kann sein wie die allmächtige Gesellschaft, jeder kann glücklich werden, wenn er sich nur mit Haut und Haaren ausliefert, den Glücksanspruch zediert." (S.162)

In einem Gedicht von Dorothee Sölle, das den Titel "Alternatives fernsehen" trägt, heißt es:

Später
wenn wir das bestehende fernsehen abgeschafft haben
und die haut alternder frauen ansehen dürfen
und die wimpern die überm weinen verloren gegangen sind
uns nicht angst machen
wenn wir die arbeit respektieren
und die arbeiter sichtbar geworden sind
und singen
zittrig und laut

Dann werden wir
wirkliche menschen sehen
und darüber glücklich sein
wie gott

(in: spiel doch von brot und rosen. fietkau, 1998)

Anne Sandmann Januar 2012