Wahlen in Guatemala - Vorbild für ganz Lateinamerika?

Die Europäische Gemeinschaft hat behauptet, dass die Wahlen in Guatemala, wo 46 Personen während des Wahlkampfs ermordet worden sind, ein "wunderbares Beispiel" für ganz Lateinamerika darstellen. Dies, ohne die 2857 Morde zu berücksichtigen, die im ersten Halbjahr 2007 geschehen sind, nach offiziellen Angaben in ihrer Mehrzahl mit Feuerwaffen.

Trotzdem "beglückwünscht die Europäische Gemeinschaft das guatemaltekische Volk für Wahlen, die durch hohe Beteiligung sowie die friedliche und geordnete Weise, in der die Bürger zu den Wahlurnen gingen, gekennzeichnet waren", sagte gestern der Chef der Mission, Wolfgang Kreissl-Dörfler, der hinzufügte, dass die Wahlen ein "wunderbares Beispiel" für ganz Lateinamerika darstellen, wie der Korrespondent von "El Pais" wiedergab.

"Ich bin positiv überrascht über diesen so exzellenten Prozess in Guatemala", sagte Kreissl-Dörfler der Agentur AFP.

Mit ähnlichen Worten wird es von der Prensa Latina wiedergegeben: "Kreissl Dörfler hob hervor, dass der Wahltag am 9. September sich in einem ambiente von Ruhe und Bürgerfest vollzog, nur getrübt durch einige Ereignisse in den Regierungsbezirken Santa Rosa, Jutiapa und Alta Verapaz".

Fast alle Morde wurden gegen linke Kandidaten verübt. In der letzten Woche wurden zwei Kandidaten der Partei "Begegnung für Guatemala", Partei von Rigoberta Menchú, (guatemaltekische Indigena-Nobelpreisträgerin, g.p.) von Kugeln durchlöchert. Am Freitag ermordete ausserdem eine Gruppe von Unbekannten den Sohn des Generals im Ruhestand Morris de León, der Sprecher des guatemaltekischen Heeres war und nun in der linken Alianza Nueva Misión aktiv ist. Gustavo de León wurde am nördlichen Stadtrand tot aufgefunden, mit mehreren Schüssen in Kopf und Brust, nachdem er angeblich durch ein bewaffnetes Kommando entführt worden war.

Der Direktor der Menschenrechtskommission des Generalvikariats der Erzdiözese von Guatemala Stadt, Nery Rodenas, behauptete in einem Interview mit der Jornada, dass er über alarmierende Daten verfügt, dass "wir von Januar bis heute 68 Attentate gegen politische Aktivisten registriert haben, von denen 46 ermordet worden sind". Er beklagte, dass "von offiziellen Untersuchungen bisher nichts Wichtiges zu hören war, dass sie festgefahren sind. Aber wir nehmen an, dass an vielen dieser Morde der Drogenhandel und das organisierte Verbrechen beteiligt sind". Was die Resultate angeht, hat das Wahl- und Gerichtssystem erlaubt, dass der Ex-Diktator Efraín Rios Montt seine parlamentarische Inmunität beibehalten hat, indem er zum Abgeordneten gewählt worden ist und so die Bitte der spanischen Behörden, ihn an Spanien auszuliefern sowie die Prozesse, die gegen ihn wegen seiner Verbrechen gegen die Menschheit in Guatemala eröffnet worden sind, verspottet hat.

Die Europäische Gemeinschaft feiert ausserdem, dass zum ersten Mal in der Geschichte Guatemalas, eine Majafrau, (die Nobelpreisträgerin, g.p.) Rigoberta Menchú, als Präsidentschaftskandidatin sich aktiv an den Wahlen beteiligt, obwohl sie nur drei Prozent der Stimmen in einem Land bekommen hat, in dem mehr als 50% zur Indigena-Bevölkerung gehören. Aber dies ist die Situation, die Europa als beispielhaft empfindet, dass die Indigenas sich präsentieren und drei Prozent bekommen, nicht, dass sie die Wahlen gewinnen wie in Bolivien. Das erscheint dann nicht mehr als beispielhaft für den ganzen Kontinent.

Was die Wahlbeteiligung angeht, hebt die (spanische g.p.) Zeitung "El Pais" die "massive Wahlbeteiligung hervor, die mehr als eine halbe Million grösser war als vor vier Jahren". Der Sprecher der Europäischen Union betonte die "breite Beteiligung von Frauen und Jugendlichen" an den Wahlen, eine Tatsache, die er als "einen Beweis, dass sie am demokratischen Prozess des Landes beteiligt werden wollen" betrachtet. Was der Europäer nicht erklärte, ist, dass die Nicht-Teilnahme bei 42.08% liegt, während die Beteiligung, die er als massiv und gross bezeichnet, 57.92% beträgt. Aber 3.52% gaben leere und 5.40% ungültige Wahlzettel ab...

Zusammenfassend: Die Hälfte wählt nicht, 46 Politiker wurden in der Wahlkampagne ermordet, ein Dikator gewinnt die Straflosigkeit für seine Verbrechen des Völkermords, einige Bürger konnten nicht wählen, Indigena-Kandidaten nehmen teil, bekommen aber nur drei Prozent, gewinnen Sitze für Sozialdemokratie und für die Rechte. Das heisst, ein wunderbares Beispiel für Lateinamerika. Mal sehen, ob Venezuela, Bolivien und Ecuador dazulernen werden.

Einige Anmerkungen von: Gerhard Pöter, El Salvador:

General Rios Montt war Diktator in Guatemala, als dort in den 80er Jahren 200.000 Menschen umgebracht wurden, 80% davon Maya-Bevölkerung. In einem Amnesty-Bericht las ich über die Einsetzung und Absetzung von mehreren Staatsanwälten, die den Prozess gegen Rios Montt in Guatemala vorbereiten sollten. Dazu ist es aber nie gekommen. Auch die Justizbehörden Spaniens, die ihn vor Gericht stellen wollten, waren bisher erfolglos. Nun ist er wieder Abgeordneter geworden und immun, in einer Wahl, die der Sprecher der Europäischen Gemeinschaft als wunderbar und beispielhaft bezeichnet.

Erinnerung: Es ist noch nicht lange her, dass drei salvadorianische Abgeordnete und ihr Fahrer auf dem Weg zum mittelamerikanischen Parlament in Guatemala ermordet wurden, unter ihnen ein Sohn von D Abuisson. Kurz darauf wurden die angeblichen Täter gefasst, vier Polizisten, die in der Abteilung arbeiteten, die das organisierte Verbrechen in Guatemala bekämpfen soll. Sie wurden im einzigen Hochsicherheitsgefängnis Guatemalas untergebracht und dort am nächsten Tage ermordet, obwohl die Mörder mehr als fünf schwere Stahlbetontüren öffnen mussten, um zu den gefangenen Polizisten zu gelangen. (Drogenhandel und organisiertes Verbrechen ist nicht etwas, was sich ausserhalb von Polizei und Regierung befinden würde!)

Erinnerung 2: Vor wenigen Jahren (Braucht Ihr die genaue Jahreszahl?) wurde in Guatemala ein Bischof ermordet, der an der Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit arbeitete, Monseñor Girardi.

Erinnerung 3: In diesem Jahr veranstaltet unser Orden eine Tagung zu den Menschenrechtsverletzungen in Baja Verapaz in Zeiten von Rios Montt. Unser jetziger Prior hier in San Salvador hat damals in Rabinal, Baja Verapaz gearbeitet. Von 25000 Menschen, die damals in seiner Pfarrei wohnten, wurden 5000 ermordet.

Erinnerung 4: Vor kurzem wurde ein Platz im Sicherheitsrat der UNO frei. Einige lateinamerikanische Regierungen schlugen Venezuela, die US-Regierung Guatemala vor (Vorschlagen ist eine viel zu sanfte Vokabel.). Es kam zu einem Patt, genauer gesagt, keines von beiden Ländern konnte die nötigen Stimmen gewinnen. Man einigte sich dann auf Panama. Meine neugierige Frage: Und für wen stimmte eigentlich Deutschland? Muss ich noch einmal erwähnen, dass Venezuela, was Menschenrechte angeht, beste Daten hat? Gestern stellte ich bei einer Begegnung fest, dass junge Europäer, die politisch interessiert sind, von Venezuela ein für meine Begriffe ziemlich negatives Bild besitzen. Warum? Wie ist es entstanden? Hatte die vorherige Generation ein ebenso negatives Bild, als in Venezuela Folter, Massaker, zum Himmel schreiende Bereicherung der Regierungsmitglieder und ausländischer Kapitalisten etc. etc. an der Tagesordnung und der Anteil der in absoluter Armut lebenden Venezolaner erheblich höher, medizinische Behandlung und Schulbesuch für eine grosse Masse ein Luxus und unerschwinglich waren?

Ich las gerade ein Interview mit einem berühmten Dominikaner, Frei Betto, Brasilianer. Frage: "Wie sehen Sie die bolivarianische Revolution in Venezuela von Brasilien aus?" "Ich sehe sie mit viel Vertrauen und Optimismus. Aber es gibt sehr viel Misstrauen in Brasilien wegen der Vorurteile, die uns die grosse Presse einpflanzt. Die bolivarianische Revolution ist für mich der angemessene Weg, eine sozialistische Zukunft ohne Waffengewalt zu erreichen. Diesen Weg sollte Lula (Präsident Brasiliens, früher: mit Betto während der Militärdiktatur im Gefängnis, jetzt hat Betto aber eine kritische Position gegenüber der aktuellen brasilianischen Regierung) auch gehen. Lateinamerika und die Demokratie haben keine Zukunft ausserhalb des Sozialismus."

Meine Frage: Wohin treibt diese Welt? Welche Zukunft braut sich zusammen? Welche Rolle spielt dabei die Europäische Gemeinschaft und das mächtigste Land in ihr: Deutschland? Kann ich mich darüber freuen, dass viele Salvadorianer nicht interessiert, was der Sprecher der Europäischen Gemeinschaft sagt und sie mich auch nicht mit kritischen Fragen bedrängen? Dieses Desinteresse ist wirkungsvoll produziert wie der "Wahlerfolg" für Rigoberta Menchú von drei Prozent. Vor acht Jahren wählten viele indigenas im dominikanischen Rabinal Rios Montt. Sie wählten den Mörder ihrer Familienangehörigen. Ist Familie für indigenas nicht wichtig? (Ihr Verhalten ist wohl am besten durch ihre krankhafte Angst zu erklären, Folge der furchtbaren Repression!) Und eine letzte Frage: Kann man hier Sozialarbeit machen, ohne solche Fragen zu stellen und zu diskutieren? Eine kluge Frau aus Indien hat in diesen Tagen ein Buch fertiggestellt, in dem sie der Frage nachgeht, was eigentlich die NGOs so treiben und welche realen Effekte ihre Arbeit hat. Sind wir nicht auch so etwas wie eine NGO?

Damals, als wir noch jung waren, trieb uns die Frage um, wie Elend, Unterdrückung und Ausbeutung in der armen Welt mit dem Wirtschafts- und Herrschaftssystem im Norden zusammenhängen. Genau an diesem Punkt gab es dann viel Krach und einige Sanktionen. Es ist nun dringend, diese alten Fragen erneut zu stellen. Vielen Dank an Herrn Kreissl Dörfler, uns unbeabsichtigt diese wichtigen alten und heutigen Fragen so deutlich gemacht zu haben! Die verschleiernde Sprache der ultrarechten lateinamerikanischen Oligarchie unterscheidet sich normalerweise kaum von der der "demokratischen" Funktionäre der Europäischen Gemeinschaft. Ist das ein Wunder?

Pascual Serrano, Guatemala

Übersetzung und Anmerkungen: Gerhard Pöter, El Salvador