Marie Veit - unsere Lehrerin der Hoffnung

Marie Veit ist tot. Am 13. Februar 2004 hat sie uns verlassen. Doch auch für sie gilt sicherlich, was ihre Schülerin Dorothee Sölle einmal sagte: »Und wenn sie euch sagen, ich bin tot, glaubt ihnen nicht!«

Statt eines Nachrufs wollen wir an dieser Stelle Dorothee Sölle zu Wort kommen lassen, mit ihrer Laudatio zu Maries 75. Geburtstag:

Bereits in den letzten Schuljahren war ich sehr fasziniert von einem nicht kirchlichen, aber radikalen Christentum. Ich hatte eine Religionslehrerin, die einen phantastischen, begeisternden Religionsunterricht gab und mir in dieser Frage viel geholfen hat: Marie Veit. In meinem Tagebuch aus jenen Jahren steht der mich heute erheiternde Satz: »Die neue Religionslehrerin ist umwerfend gut, leider Christ!« Das zeigt meine achtzehnjährige Arroganz, meine Vorstellung, Christen seien eben dumm, zurückgeblieben, feige und unklar. Bis ich mir zugab, dass das, was mich da faszinierte, viel stärker war als meine Weisheit, dauerte es noch einige Zeit. Auf dem Weg nach Athen merkte ich plötzlich, dass ich eigentlich nach Jerusalem wollte. Von Anfang an.

Marie Veit gehört zu den besten Theologinnen deutscher Sprache; das bedeutet in ihrer (und meiner) Generation, dass sie in der Bundesrepublik nicht die Karriere, die ihr zukäme, gemacht hat. Frauenspezifisch ist die Verzögerung: Erst relativ spät erreichte sie den Übergang von der Schule zur Hochschule, und noch zurückhaltender war sie mit Veröffentlichungen.

Marie Veit ist – und war schon, ehe das Wort aufkam – eine Theologin der Befreiung. Nicht im Sinne eines lateinamerikanischen Imports, sondern im Sinne der Notwendigkeit eines anderen Christentums nach der Erfahrung des deutschen Faschismus. In dieser historischen Situation habe ich sie erlebt, als sie 1947 in die Unterprima unseres Mädchengymnasiums in Köln trat, wenige Jahre älter als wir, bei Rudolf Bultmann promoviert, eine äußerst unbestechliche, exakte, Denkanstrengung und Redlichkeit fordernde und vorlebende Lehrerin.

Sie hatte eine unnachahmliche Art, meinen Unwillen gegen das Christentum zu unterlaufen, indem sie höflich fragte, ob ich denn Paulus meine oder Luther oder die Evangelien, wenn ich Jenseitsgesäusel oder hündische Demut attackierte. Eine wunderbare Lehrerin, die mir nie mein rotzfreches Geschwätz verbat, mich aber zur Klärung nötigte. Heute denke ich, sie hat meiner Zorn respektiert und meine Arroganz belächelt, sie hat unsere Intelligenz herausgefordert, weil sie Menschen einfach zutraute, dass sie der Erkenntnis und des Gewissens fähig sind.

So lasen wir damals, frierend und für Schulspeisung dankbar, Heidegger und Sartre, Bonhoeffer und Paulus und später nach der Schule Herbert Marcuse und Freud. Jahre später begründeten wir den Ökumenischen Arbeitskreis in Köln, aus dem sich dann das Politische Nachtgebet entwickelte. Marie Veit war eine der »Säulen« dieser Gruppe, in Rat und Tat, Sachkenntnis und theologischem Wissen, Organisation und Aktion. Ich erinnere mich auch an ihre unnachahmliche Fähigkeit, älteren Gemeindemitgliedern den Unterschied zwischen christlichem Glauben und bürgerlicher Wohlanständigkeit nahe zu bringen.

Marie Veits Stellungnahme zu den großen Auseinandersetzungen zwischen den Armen und den Reichen, den Waffenlosen und den Rüstungsprofiteuren, dem biblischen Glauben und der an der Macht teilhabenden Kirche ist seit Jahrzehnten gewachsen und erprobt. Sie denkt parteilich. »Bürgerlich« ist an ihr nur die Genauig

keit, die Präzision, die wissenschaftliche Zuverlässigkeit und eine sozusagen frühbürgerliche Bescheidenheit der Ausdrucksweise.

In den letzten Jahren ist mir meine alte Schullehrerin, ohne die ich nie zur Theologie gekommen wäre, immer mehr Vorbild als eine Lehrerin der Hoffnung geworden.

Aus: Dorothee Sölle. Gegenwind. Erinnerungen. Hamburg 1995. (Hofmann und Campe. ) S. 38-40