Ganz souverän im Cafe´Abgrund

Um Souveränitäten geht es in diesem Buch. Etwas postmodern im Plural. Also um Herrschaften, symbolische wie reale, wie es die ambitionierte jour-fixe-initiative berlin in der Einleitung zum Buch "Souveränitäten - Von Staatsmenschen und Staatsmaschinen" formuliert. Dabei gehe es darum, der aktuellen Ohnmacht des politischen Diskurses eine neu zu entwickelnde Souveränität der befreiten Menschen entgegenzusetzen. Letztlich geht es um Herrschaftskritik.

In diesem Band ist eine Reihe sehr interessanter, da recht tiefgreifender Aufsätze von SoziologInnen und PhilosophInnen, alle aus Europa, von der Berliner Initiative zusammengestellt worden. Seit 2000 sind von dieser Autorengruppe vielbeachtete Aufsatzsammlungen über Faschismustheorien, Geschichte nach Auschwitz, Ästhetik oder auch das "Gespenst Subjekt" herausgegeben worden.

In "Souveränitäten" verdiente jeder einzelne Aufsatz eine Einzelrezension, geht es doch um grundlegende Fragen der Politik, Gesellschaft und Wissenschaft, die hier einmal nicht affirmativ gestellt und beantwortet werden. Eines jedoch kann kaum befriedigen, das ist die fehlende Systematik der Aufsätze. Hier wäre eine Einteilung in "Traditionelle Ansätze", "Neuere Ansätze" und "Widerstandsformen" sehr angebracht gewesen.

Als Ausgangspunkt gilt für nahezu alle AutorInnen eine grundlegende Differenz: Staatssouveränität steht gegen Subjekt- und Volkssouveränität. Diese Grund-Differenz wird für verschiedene Zeiten und für verschiedene gesellschaftliche Bereiche durchgespielt. Dabei kommen der Erlanger Soziologe Jan Weyand, die Künstlerin und Autorin Bini Adamczak und der Hallenser Soziologe Ulrich Bröckling einer begründeten, da selbstreflexiven Kritik einer falschen Souveränität wohl am nächsten, da ihr Subjektbegriff sich seinen zugrundegelegten Annahmen am konsequentesten annähert.

Adamczak liefert eine Relektüre Lenins, Trotzkis und Kautskys. Michael Koltan (Programmierer aus Freiburg) beschäftigt sich mit Lenins "Staat und Revolution." Während Koltan den Gegensatz von objektivem Marxismus bei Lenin und subjektiver direkter Demokratie beim Volk aufmacht und immerhin benennt, versucht es Adamczak mit "aufdeckerischer Kritik." Diese überschreite die Begrenzungen von verkürzter und reproduktiver Kritik, was sich in metakritischen Äußerungen Butlers und Adornos andeute und was sich als Einheit von gedachtem Wesen und realer Erscheinung, Hegel, vollenden lasse. Wie aber Subjekte durch Meta-Kritik konkret zu sich selbst kommen könnten, wirklich souverän würden, läßt auch Adamczak offen.

Jan Weyand, Daniel Bensaid (der verstorbene Mitbegründer der französischen antikapitalistischen NPA) und Bob Jessop (Soziologe aus Lancaster/GB) konzentrieren sich stärker auf die Gegenwart. Weyand weist dankenswerterweise auf einen Schwachpunkt bei Marx und der Kritischen Theorie hin: die lediglich negative Bestimmung von Politik als Herrschaftskritik. Bei Marx wie den Frankfurtern ginge es zwar bestechend, aber eben auch defizitär um die Kritik an Herrschaft, nie oder selten um wirklich gelingendes politisches Leben. Selbstbestimmung als Ausdruck gelingender Politizität sei ein entscheidender Faktor für den Widerstandshebel in Theorie und Praxis. Daniel Bensaid, dem der Band gewidmet ist, macht deutlich, daß aus dem gegenwärtigen Wettbewerbsstaat der Sicherheitsstaat wird, in dem die Machtfrage kaum mehr diskutiert werden dürfe - bei Strafe des eigenen Untergangs. Bensaid weist sehr richtig darauf hin, daß der Macht-Gegenmacht-Diskurs in seinen eigenen Bedingungen verhaftet bleibe. Ein Ausweg erscheint zur Zeit als illusorisch. Bensaid lehnt aber religiöse oder künstlerische Ersatzwege als völlig unakzeptabel ab. Ein wenig gespreizt kommt Bob Jessops Aufsatz daher, da mit seinem Begriff "ökologische Dominanz" für den Neo-Liberalismus kaum etwas klarer werden dürfte. Was er meint, ist das Kapitalverhältnis, das lange vorher Marx als automatisches Subjekt herausstellte und das sich selbst reproduziert wie vernichtet. Daß die ökologische auf die ökonomische Frage strengstens zu beziehen sei, ist Jessop offenbar unbekannt.

Ulrich Bröckling nimmt eine Mittelstellung ein: einerseits treibt er die Subjektkritik auf eine Spitze, andererseits versucht er diese Kritik durch "emanzipatives Klauen im Supermarkt," sprich Weiterverschenken an Bedürftige, empirisch zu untermauern. In bestechender Weise zeigt Bröckling auf, daß es im gegenwärtigen Kapitalismus auf Gedeih und Verderben darum gehe, anders anders zu sein als andere. Alleinstellungsmerkmale werden zu den gnadenlosen Richtern eines jeden. Bröckling schlägt dagegen Indifferenz vor, die dreierlei bewirken könne: die Vermeidung eines Standpunkts, einer Avantgardestruktur und schließlich Vermeidung dessen, das Uneindeutige zu hoch zu bewerten. So könnte Kritik fast gedankenlos werden- um so bei sich selbst anzukommen. Dieser Gedanke verdient, in die Tat umgesetzt zu werden!

Zum Schluß bleiben die Widerstandsformen, die - bei aller Wertschätzung - nicht wirklich etwas Neues bieten können. Ingrid Artus, Soziologin aus Erlangen, beschäftigt sich mit prekären Kämpfen und lobt die Supermarkt-Verkäuferinnen, die sich durch nichts von ihrem Einsatz abbringen lassen. Daß sich dafür allerdings "Verrückte" finden lassen müssen, stimmt ein wenig nachdenklich. Der französische Philosoph Alain Brossat verweist auf die bewußten und unbewußten Zermürbungstaktiken von Staat und Politikern. Das schöne Leben werde immer mehr eingeschränkt, das bloße Überleben zum Normalfall. Daß unter dem Pflaster der Strand liegt, scheint allein Reminiszenz. Ist sie das wirklich? Daniel Loick, Frankfurter Philosoph, kommt durch Walter Benjamin dazu, auch für die Gegenwart Polizei und staatliche Kontrolle immer nur als kapitalindiziert sehen zu können. Aber immerhin gibt Loick den widerständigen Rhythmus vor: "Who protects us from you?"

Wer's weiß, bitte melden.

Martin Block, Göttingen

Souveränitäten - Von Staatsmenschen und Staatsmaschinen, jour-fixe-initiative berlin (Hg.),
Unrast-Verlag, Münster 2010, 220 Seiten, 16 Euro