San Salvador, 21.12.2011

Liebe Freundinnen und Freunde,

Wieder geht ein Jahr zu Ende. Ich kam gestern von Exerzitien zurück, die ich für unsere Dominikaner-Studenten "gepredigt" habe. Wir waren in einem einfachen Exerzitienhaus, von einem Luxemburger Priester gebaut und verwaltet. Es war dort fürchterlich kalt und einige von uns hatten nicht daran gedacht, eine Decke mitzunehmen. Normalerweise braucht man so etwas auch gar nicht. Aber wir sind im "Sommer" (verano), d.h. in der Kälteperiode und das Haus liegt hoch in den Bergen.

Grundlage für meinen Beitrag zu den Exerzitien waren für jeden Teilnehmer zwei kleine Texte, die ich in den letzten Tagen in "rebelión.org" gefunden habe. Jeder sollte, durfte auf sie reagieren, wie er wollte. Nicht nur durch die üblichen Zusammenfassungen. Was mich gewundert hat, war, dass sie nicht auf ihren Schatz an religiöser Sprache zurückgriffen, sondern sich säkular ausdrückten. Und es wurden gut gelungene Zusammenfassungen gemacht. Die jungen Brüder hatten dann große Lust, über die Texte zu sprechen. Alle wollten Zeit, um "ihren" Text vorzustellen.

Die Themen, die behandelt wurden, waren der "Konflikt zwischen Israel und Palästina", Feminismus und Ökologie, Indigena-Kulturen, imperiale Kriege. Jeden Tag erwähnen wir Ordensleute in unseren Gebeten Namen von Orten wie Jerusalem, Bethlehem und Nazareth u.a., reden aber nicht darüber, wie es dort in diesen Tagen aussieht. Die Exerzitien sollten vor allem im Schweigen bestehen. Aber es gab große Lust zu sprechen, die kleine Gruppe von sieben jungen Dominikanern wollte statt zu schweigen, über ihr Studium und den vielfältigen, teilweise konflikthaften Beziehungen an der UCA (Katholische Universität, geleitet von den Jesuiten in San Salvador) reden.

Die UCA ist für unsereins so etwas wie ein heiliger Ort. Ich weiß nicht, wer hier in unseren Kreisen, z.B. in der Gruppe der "Ordensleute für Gerechtigkeit und Frieden" auf die Idee kommen könnte, sich über die UCA zu beklagen. Unsere Studenten tun das ziemlich unbefangen. Schlampige Professoren können sich bei ihnen nicht hinter dem großen Prestige dieser Institution verstecken. Irgendwann hatte ich mit der Entscheidung zu tun, wo in Mittelamerika die jungen Dominikaner studieren sollten. Wir waren ganz klar für die UCA, auch weil die entsprechende Hochschule in Costa Rica für die Philosophie fast keine Studenten mehr hatte. Was ich bei unseren Studenten neuerdings beobachte, ist der Blick nach rückwärts und der praktische Versuch, alles an religiösen Riten, Gewändern und Gebräuchen, die nach dem II. Vatikanum "verloren gegangen" sind, zurückzugewinnen.

Auch die ästhetische Sensibilität und die entsprechende Kreativität werden ständig stärker. Es ist merkwürdig, über wie viele Lieder sie zu jedem religiösen Thema verfügen und mit wie vielen sehr schönen Melodien nun die Psalmen gesungen werden. Das war früher viel reduzierter. Befreiungstheologische "Heilige" wie z.B. der vom Vatikan gemaßregelte Jon Sobrino kommen nicht so gut weg, wie unsereins das erwarten würde. Er wird kritisiert wegen seiner unendlichen Monologe und der Eintönigkeit seines Vortrags. Zur Diskussion kommt es in seinen Veranstaltungen selten. Trotzdem steht auf meiner persönlichen Wunschliste immer noch die Lektüre eines Buches von diesem großen Theologen.

In den Texten, die ich lese, wird häufig die gegenwärtige Allianz zwischen Neoliberalen und Neokonservativen erwähnt. Das, was im Ursprung, in der Aufklärung und der französischen Revolution ein Gegensatz war, scheint sich heute zu harmonisieren. In der Rede von den Werten, wohl im Ursprung ein typisch konservativer Diskurs, treffen sich die beiden Denkrichtungen, die früher einmal gegensätzlich waren. Wie kann man das verstehen? Darüber würde ich gerne etwas mehr erfahren. Kann mir von Euch jemand einen guten Tipp oder Literatur zum Thema verraten? Auf jeden Fall fällt auf, dass in der Rede von den Werten wenig Argumentationsbedarf zu bestehen scheint. Man sagt "Werte" und kann ziemlich sicher sein, dass die Gesprächsteilnehmer mit Zustimmung reagieren werden. Unsere Studenten haben aber vielleicht keine einheitliche Denkrichtung. Ein Teil ihrer Praxis, nämlich der liturgisch-religiöse würde aber den Wertkonservativen recht gut gefallen. Aber die Befreiungslieder sind noch immer in ihrem Repertoire und werden auch gesungen. Die meisten Texte von rebelión.org werden von Atheisten verfasst. (Vor einigen Tagen war allerdings ein Bericht und eine Anklage gegen die Ermordung von Campesino-Kindern und Jugendlichen in Kolumbien veröffentlicht worden. Verfasserin: Eine interkirchliche Menschenrechtsgruppe.) Aber die Art und Weise zu argumentieren, die ich in rebelión finde, ist unseren Studenten weiterhin sehr vertraut. Der sozialen Realität des Elends, der Entfremdung, des Gewichts der imperialen US-Politik kann man hier nur schwer ausweichen.

Vor ungefähr einer Woche hatte ich wie immer die Sonntagsabendmesse in der Rosario-Kirche. Ich glaube, wir waren noch nicht bei der ersten Lesung angekommen, als in den letzten Reihen viel Gestikulieren und Reden in Gang kam. (Ich entschied mich, was die Feier der Messe anging, erst einmal eine Pause einzulegen. Ein Wächter hielt sein Gewehr auf einen Mann, der versuchte, eine junge Frau aus der Kirche herauszuziehen. Wie sich später herausstellte, gehörte der junge Mann zu einer Mara und die Frau, die er gewaltsam entführen wollte, zu einer anderen, feindlichen. Der Wächter, der sein Gewehr auf den Mann gerichtet hatte, verschwand dann auf Anordnung seines "Firmenchefs". Es gibt nun ein neues Wachpersonal. Wegen der Gewalt um die Rosariokirche herum, haben mehrere Besitzer ihre Ladenlokale aufgegeben, was für den Dominikanerorden in Mittelamerika finanzielle Schwierigkeiten bedeutet.

Einer unserer Studenten stammt aus Nicaragua. Neulich erzählte er, dass in Nicaragua die Wohnviertel der Armen sehr gut organisiert sind und dass das Chaos, das hier in El Salvador herrscht, dort schlicht nicht aufkommen kann, weil es von der organisierten Bevölkerung nicht zugelassen wird. Es gibt eine überraschend geringe Anzahl von Ermordeten. Ansonsten ist im Orden das jetzige nikaraguanische Regime unter Daniel Ortega (ein ehemaliger Sandinisten-Kommandant) nicht besonders angesehen. Der Kardinal Obando y Bravo ist ein Freund des Ehepaars Ortega. Früher begünstigte er die "Contra", also die von den USA finanzierten bewaffneten Gruppen, die den Sandinismus zu Fall brachten. Das heißt, damals war sein jetziger Freund, der Staatspräsident Ortega, Gegner des Kardinals.

Hier in El Salvador trat der FMLN-Minister für Sicherheit zurück und Funes setzte einen Freund, der General im Ruhestand ist, als Minister für dieses Ressort ein. Es war ein großer Erfolg der Friedensverträge am Ende des Krieges, Polizei und Militär voneinander zu trennen. Dies wird nun wieder gegen den Geist dieser Verträge rückgängig gemacht. Funes begründet seine Maßnahme mit der gleich gebliebenen Gewalt. Die FMLN ist mit ihm nicht einverstanden. Die Kluft zwischen Funes und der Frente wird immer größer. Öffentlich bekannt wurde, dass die US-Botschaft entsprechenden Druck gemacht hat.

Panchimalco ist ein Ort mit kolonialen Resten in der Nähe unserer Finca. Wir haben schon oft die Wanderung von Panchimalco zu unserer Finca gemacht zur Freude aller Wanderbegeisterten. In den vergangenen Wochen lasen wir in der Zeitung von der Zunahme der Gewalt in der Zone. In der vergangenen Woche haben Jugendliche den Lehrerinnen der "Schule unter Freiem Himmel" eine Wanderung vorgeschlagen. Dieses Mal von der Finca zu einem kleinen Wasserfall und zurück. Die campesinos waschen ihre Wäsche in diesem Bach. Die Söhne und Töchter aus der 22 de abril (Stadt) fanden es gar nicht gut, dass Seife im Wasser war. Ich habe die Gruppe begleitet. Was mich erstaunte, war, dass die Erwachsenen und Jugendlichen, die die Wanderung geplant hatten, das Problem besonders großer Gewalt in der Nähe unserer Finca nicht wahrgenommen haben. Eine Zeitung zu lesen, gehört nicht zu den alltäglichen Tätigkeiten der Armen. Auch Nachrichtensendungen zu verfolgen nicht. Es wäre eine wissenschaftliche Untersuchung wert zu vergleichen, welche Fortschritte beim Lesen- und Schreibenlernen zwei Gruppen machen, die Gruppe A in einem Viertel der Mittelschicht, wo von den meisten Familien jeden Tag eine Zeitung gekauft wird und die Gruppe B, im Durchschnitt gleichaltrig, die in einem Armenviertel wohnt, wo das nicht üblich ist. Und wie groß oder klein die "Welt" ist, in der beide Gruppen mental leben.

Es gibt natürlich noch viel zu erzählen. Aber zu Weihnachten, zum Ende des Jahres wird die Liste mit nicht erledigten Arbeiten immer größer.

Wir wünschen Euch ein frohes Weihnachtsfest und ein glückliches Jahr 2012. Wir bedanken uns bei Euch allen für Eure Solidarität. In diesen Tagen wurde ich häufiger gefragt: Kommen wir bis zum Ende des Jahres? Ja, wir werden es wahrscheinlich noch einmal schaffen! Wir können sogar Abfindung, Weihnachtsgeld und das hier übliche Feriengeld an unsere Angestellten bezahlen. Ohne eine sorgfältige Buchführung und ohne Sparsamkeit in den Projekten wäre das nicht möglich.

Aus den USA bekommt ein nordamerikanischer Priester, der hier arbeitet, Medizin mit einem günstigen Verfallsdatum. Wir werden von ihm angerufen, wenn eine neue Sendung eingetroffen ist. Wahrscheinlich haben wir dadurch in der zweiten Hälfte des Jahres 2011 die Kosten der Krankenstation verringern können. (In diesen Tagen werden wir die Bilanz einsehen.) Die Preise für Medizin sind hier sehr hoch, auch im Vergleich zu anderen mittelamerikanischen Ländern. Es gibt eine Kommission im Parlament, die das überprüfen und regeln soll. Aber sie wird blockiert von denjenigen, die überhöhten Preise sehr reich werden. Für viele Probleme kommt man an einer politischen Lösung nicht vorbei. Wie überall auf der Welt.

In der staatlichen Uni wurde in diesem Jahr der mittelamerikanische Philosophenkongress abgehalten. Ich habe dort ein Paar Worte über Franz Hinkelammert gesagt, zu seinem achtzigsten Geburtstag. Dazu habe ich ein Buch von ihm gelesen, das die gegenwärtigen Bedrohungen verstehen will, ausgehend von den Änderungen der christlichen Theologie damals im zweiten Jahrhundert nach Christus. Hinkelammert zeigt, wie die Allianz zwischen den verschiedenen Imperien und den christlichen Kirchen uns zur heutigen ökonomisch-politischen Situation geführt hat. Wir sehen hier mit Sorge, wie der Neoliberalismus mit dem Internationalen Währungsfond, wie in Lateinamerika gehabt, sich heute auch die Europäer unterwirft. Mit den entsprechenden Folgen. Ich will versuchen, eine Zusammenfassung des Buchs von Hinkelammert zu schreiben.

Das Buch: Franz Hinkelammert, Vom Welttheater des Johannesevangeliums zu den Hundejahren der Globalisierung, Edition Exodus, Luzern 2001