Eine Familiensaga in drei Bänden:
- Die roten Matrosen – Die revolutionären Ereignisse in Deutschland am Ende des 1. Weltkriegs und der sich anschließende Kampf Bürger gegen Arbeiter
- Mit dem Rücken zur Wand – Die Zeit um die Machtübergabe der Bürger an die Faschisten
- Der erste Frühling – Das Ende des 2. Weltkriegs in Berlin
(Bildnachweis: »Pau – Musee des Beaux-Arts, The Red Flag SPADARI« by ukdamian is licensed under CC BY-NC 2.0 )
Klaus Kordon erzählt aus der alltäglichen Sicht der zu der jeweils erzählten Zeit präpubertierenden Kinder der fiktiven Familie Gebhardt, im 1. Band Helle (Helmut), im 2. Hans, im 3. Änne. Seine Sprache ist klar, aber er erzählt nicht vereinfachend, vermeintlich kindlich oder naiv, Erwachsene langweilen oder ärgern sich nicht. Mit etwa 12 Jahren kann man die Bücher nach meiner subjektiven Einschätzung jeweils lesen. Für jüngere Kinder sind die ehrlichen Schilderungen nicht geeignet, auch die mit der Haut von KZ-Häftlingen bespannten Lampenschirme in den SS-Lager-Büros bleiben der Leser.in nicht erspart. Liebe Eltern, bitte lest unbedingt vorher selbst, bevor ihr das hier euren Jugendlichen gebt oder empfehlt.
Das historische Setting ist jeweils echt und entspricht wohl der ausgewerteten Quellenlage zur Veröffentlichungszeit der Bücher (1. 1984, 2. 1990, 3. 1993. Siehe u.a. https://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Kordon). Die Bände 1. bis 3. wurden mehrfach ausgezeichnet, und das, obwohl sie unbequeme Wahrheiten enthalten. Klaus Kordon schreibt nicht agitatorisch, vielleicht deshalb die bürgerliche Akzeptanz. Trotzdem habe ich abwechselnd geflucht und geheult beim Lesen.
Vielen Autoren, die diese Zeiten in einer Familiengeschichte beleuchten, geraten die Bücher eher unpolitisch. Wenn schon, dann werden die Ereignisse im Licht des aktuellen wirtschaftlichen und politischen Systems (DDR-»Sozialismus« oder bürgerliche, kapitalistische Demokratie) beschrieben und die Leistungen der vermeintlichen oder tatsächlichen politischen Gegner verschwiegen oder denunziert. Natürlich ist der Faschismus ganz schrecklich, die Freundin kommt ins Lager, man kann nichts tun, oder flieht.
Hier ganz anders. Die Leser.in erfährt, ohne Belehrung und Schwarz-Weiß-Malerei, von den Brüchen in individuellen und in Parteibiographien, vom bürgerlichen Verrat an der Revolution, von Auseinandersetzungen zwischen moskautreuen und unabhängigen Kommunisten, zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, von der Skrupellosigkeit von Faschisten und der kleinen, anpasslerischen Skrupellosigkeit von Bürgern. Die meisten Mitglieder der Famlie und Ihrer Genoss.innen wissen ganz genau, dass sich durch eine Ebert-Regierung statt des Kaisers nicht wirklich etwas ändert, solange die Macht des Kapitals nicht angetastet wird.
Kordon erzählt auch von 13-jährigen Helden, die sich schämen, wenn sie sich zwingen lassen, »Juda verrecke« zu sagen, so deutlich, wie das Blut, das aus der Nase über ihren Mund läuft, es ihnen erlaubt. »Held« meine ich hier nicht ironisch. Wir können durch solche Szenen fühlen, was es heißt, auch dann noch Nein zu sagen, wenn es lebensbedrohlich ist. Er hat es nie wieder getan, und dafür bezahlt. Aber schon der Versuch, nicht bequem mitzuschreien, macht ihn für mich zu einem Helden. Vater wie Mutter der Familie sind Kommunisten, auch die meisten ihrer Kinder. Im Faschismus sind die Großeltern auch für ihre Enkelin die Eltern, weil Söhne und Schwiegertöchter in Gefängnissen und Lagern sind oder unter Tarnidentitäten als Halbjuden zu überleben versuchen. Ob von den beiden noch einer lebt? Wie geht es den eventuellen Überlebenden, wenn sie wiederkommen? Und wie geht es der Enkelin, wenn da Fremde kommen und behaupten, Eltern, Onkel oder Tante zu sein?
Seine Held.innen stemmen sich mit Humor und Solidarität gegen die Unterdrückung und die Mutlosigkeit. Nach all den Verlusten in Familie und bei Genoss.innen, Freund.innen und guten Nachbarn verzweifeln auch die nicht dauerhaft, die 1945 noch übrig sind und auch nicht an den Kriegsfolgen in den Monaten und Jahren danach noch sterben. Nicht alle werden in Gefängnissen und Lagern ermordet oder sterben an der Front. Auch Hunger, schlechte medizinische Versorgung, Wohnungslosigkeit, Plünderungen durch Besatzer und durch andere Hungerleider, Denunziation, Fehlurteile, Vergewaltigungen fordern ihre Opfer. Auch Lebende können ein Verlust für die Familie sein: Eine Tochter heiratet früh einen Nazi, hat dadurch wirtschaftlich ausgesorgt, und der junge Mann macht schon bald nicht mehr aktiv mit. Man kann beide verstehen, aber kann es auch nur eine.r aus der Familie jemals den beiden verzeihen, dass der Schwager bei der Verhaftung der Familienmitglieder dabei war? Verhaftet wegen des Verbrechens, Kommunisten zu sein …
KPD und SPD hatten mehr Zustimmung unter den Wählern als die Nazis, in den republikanischen Wahlen. Seitdem sich die Faschisten aber mit bürgerlicher Hilfe in den Sattel gehoben haben, werden Sozialisten in den westlichen Ländern wie Aussätzige behandelt, haftet dem Sozialismus besonders in Deutschland ein Stigma an. Bis heute. Auch in stalinistischer und anderer autoritärer, nominell sozialistischer Tradition hatten und haben wirkliche, kritische Sozialisten es schwer. Es ist natürlich bequemer, sozialistische Weltanschauung und Haltung im politischen Diskurs auf jeder Ebene gar nicht erst zuzulassen, sondern zu denunzieren. In meiner Schulzeit 1972 bis 1985 in Westdeutschland wurden vom Lehrplan der Sozialismus und der sozialistische Widerstand im Faschismus von Anfang an verunglimpft. Über die Revolution 1918/19 habe ich wenig in der Schule erfahren. Die unverantwortliche Machtübergabe an die Faschisten, vermutlich als Werkzeug gegen die kommunistische und sozialdemokratische Gefahr gedacht, die dann aber durch Hitlers geschickten sofortigen Machtausbau außer Kontrolle geriet und bekanntlich nicht nur den Kommunisten Elend brachte, wurde natürlich als staatstreichartige Machtergreifung dargestellt. Die halbherzigen, späten moralischen Entrüstungen einiger Bürger (der »Widerstand«) wurde natürlich in der Schule behandelt, der Widerstand der Kommunisten wurde nicht erwähnt, geschweige, gewürdigt.
Auch über den Blockwart, der zuerst in SA-Uniform Kommunistenkinder verprügelt, aber in seiner Darstellung den Besatzern gegenüber versteckt den Nachbarn gegen die faschistische Gewaltherrschaft geholfen haben will, lesen wir bei Klaus Kordon.
Wer die faschistischen Mechanismen auf allen politischen Ebenen bis in Betriebe und Wohnhäuser hinein und den deutschen Anti-Sozialismus verstehen will, der sollte diese Bücher lesen. Und, versprochen, auch der Blick auf die neuen Nazis und das bürgerliche blinde rechte Auge wird ein anderer. Es wiederholt sich so viel.