Wir alle freuen uns über das Wirken von Papst Franziskus, der sich eindeutiger und vernehmbarer als seine Vorgänger auf die Seite der Armen gestellt und die oft tödlichen Strukturen der sozialen Sünde in unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem benannt hat. Dass er das konnte und dass man ihn überhaupt zum Oberhaupt der Katholischen Kirche gewählt hat, daran hat in einem nicht unwesentlichen Maße die lateinamerikanische Befreiungstheologie ihren Anteil. Diese leistete als Theologie die theoretische Vorarbeit dazu, dass Franziskus heute die „Option für die Armen“ als das ein vordringliches Ziel des gesellschaftlichen Engagements der Kirche erkennen und benennen kann.
Während die Kirche auf diesem Feld heute eine gute Richtung eingeschlagen hat, sind noch immer viele Menschen unzufrieden mit dem Verhalten des katholischen Lehramts bei vielem, was mit dem Thema Sexualität zu tun hat. So hat schon das 1995 erstmals durchgeführte Kirchenvolks-Begehren neben der vollen Gleichberechtigung der Frau und der freien Wahl zwischen zölibatärer und nicht-zölibatärer Lebensform für Priester eine positive Bewertung der Sexualität gefordert als wichtigem Teil des von Gott geschaffenen und bejahten Menschen. Statt dass es seitdem aber Fortschritte gäbe, musste die Kirche einsehen und eingestehen, dass es unter Priestern immer wieder Fälle von sexuellem Missbrauch Minderjähriger gegeben hat – Fälle, die dann oft auch noch vertuscht wurden.
Obwohl es jedem klar sein dürfte, dass hier großer Reformbedarf besteht, tut sich die Kirche mit einer neuen Haltung zu dem Themenkomplex schwer. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass es keine Theologie zu geben scheint, die sich des Themas Sexualität besonders angenommen hätte und die begründet aufzeigt, inwiefern die Befreiung der Sexualität heute religiös an der Zeit wäre.
Eine „sexuale“ Befreiungstheologie, so notwendig sie heute ist, hat sich mit tieferen theoretischen Schwierigkeiten auseinanderzusetzen als die klassische Befreiungstheologie der Armut. Während die biblische Überlieferung voll ist von Zusagen, dass Gott nicht die Not der Armen, sondern deren Befreiung will, finden sich doch kaum Aussagen darüber, dass er eine befreite Sexualität wollte. Dabei ist genau das heute zu postulieren.
Vordergründig steht dieses Postulat geradezu in einem Widerspruch zur Heiligen Schrift – sowohl zum Alten als auch zum Neuen Testament – und zur kirchlichen Tradition. Um es dennoch theologisch begründen zu können, braucht es eine humanwissenschaftliche Kritik dogmatischer Vorstellungen des Christentums – in analoger Weise, wie in der Exegese die historische Kritik Verwendung findet. Zwar hat es solche humanwissenschaftliche Kritik schon immer gegeben, meinst aber von außerhalb der Kirche. Das neue Anliegen einer Befreiungstheologie der Sexualität wäre, diese Kritik in grundsätzlicher Loyalität zur christlichen Lehre zu versuchen mit dem Ziel, die Einstellungen des Lehramts zu Fragen der Sexualität zu öffnen bis hin dazu, in der Kirche eine befreiende sexuelle Revolution auszulösen.
Ähnlich wie die säkularen sexuellen Revolutionen des 20. Jahrhunderts eng verbunden sind mit den Erkenntnissen der Psychologie, so haben diese Erkenntnisse auch die Potenz, die Kirche zu verändern. Dass die humanwissenschaftliche Kritik dabei ein legitimes Mittel der Theologie ist, das möge folgende Textstelle des Evangeliums belegen:
„Der Geist weht, wo er will“ (Joh 3,8).
Der Satz ist wahr z.B. insofern sich die Wirkung des Evangeliums nicht auf die Kirche beschränkt. Vielmehr hat das christliche Welt- und Menschenbild die neuzeitliche Wissenschaft erst möglich gemacht. Die Humanwissenschaften sind Ableger des Christentums und gehören damit, wenn nicht zur kirchlichen, so doch zur christlichen Tradition hinzu. So hat das humanwissenschaftliche Streben nach Wissen auch Anteil an dem christlichen Wahrheitsstreben, das in Joh 8,32 als Quelle der Befreiung bezeichnet wird: „Die Wahrheit wird Euch frei machen.“
Der Ansatz der sexualen Befreiungstheologie ist dabei radikal im ursprünglichen Sinn dieses Wortes. Sie geht an die Wurzeln dieser Einstellungen: die dogmatischen Vorstellungen. Sie reflektiert das Verhältnis von Dogma und religiös-sexueller Praxis. Aus der Reflexion folgt die Möglichkeit, diese Vorstellungen weiter zu entwickeln und so sowohl das dogmatische Gebäude zu renovieren als auch die Praxis zu revolutionieren. Man renoviert ein Haus, indem man die Bausubstanz erhält und um diese Substanz herum Neues schafft. Dementsprechend sollten Dogmen wie die Aussagen des Glaubensbekenntnisses in ihrer sprachregelnden Gestalt nicht geändert werden. Sehr wohl kann man aber einzelnen dieser Worte neue Bedeutungen geben.
Zugleich mit der Kritik müsste auch ein exegetisches Programm aufgesetzt werden. Die biblische Überlieferung wäre auf das Thema Sexualität hin neu zu befragen. Sexualkritische Passagen wie die Kämpfe der Propheten gegen sexuelle Kulte der Antike müssten in ihnen historischen Zusammenhang gestellt und als sinnvoll, aber zeitgebunden herausgearbeitet werden. Neben der historischen Kritik sollte zudem die tiefenpsychologische Exegese ihren Dienst tun. Es lassen sich verborgene Anspielungen und Symbole finden, die eine bisher übersehene und so unbewusst gebliebene Schicht bilden, die auf den Verheißungscharakters von Sexualität hindeutet. Ein Beispiel: Als Mose zur Befreiung seines Volkes vor den Pharao treten sollte, bekam er von Gott einen Stab, der sich in eine Schlange verwandelte. Als er in sein Gewand fasste, wurde es, wie es heißt, weiß wie von Aussatz. Beides kann als tiefenpsychologisches Symbol gedeutet werden – für Penis und Sperma – und solchermaßen in den Horizont der Befreiung aus der Sklaverei gestellt werden.
Da es nicht das Ziel wäre, die christliche Lehre zu zerstören, sondern mit dem katholischen Lehramt in einen Dialog über das Thema Sexualität einzutreten, hat das neben aller Kritik mit Respekt vor der kirchlichen Überlieferung zu geschehen. Was so viele Menschen über viele Jahrhunderte hinweg geglaubt und gelebt haben, kann nicht einfach falsch gewesen sein. Die alten Lehraussagen können und sollen also nicht über Bord geworfen werden. Wichtig ist ein gedanklicher Brückenschlag, bei dem einerseits aufgezeigt wird, dass die alten Vorstellungen von Sexualität in ihrer Zeit eine wichtige und positive Rolle gespielt haben, dass aber aufgrund der geistigen Entwicklung der Menschheit die dogmatischen Aussagen heute anders interpretiert werden sollten.
Der Begriff der „sexuellen Befreiung“ sollte daher – anders als im säkularen Umfeld – im Bereich der Religion komplementär verstanden werden. Es gibt im religiösen Bereich das Phänomen der Befreiung von Sexualität um der traditionell verstandenen spirituellen Suche willen. Auch schon früher haben sich Menschen zu ihrer Sexualität verhalten und dieses Verhalten als befreiend erlebt – auch wenn es bedeutete, sich gegen das Ausleben der Sexualität zu entscheiden. Sexualität ist damit in ihrer Negation schon immer ein zentrales Feld des Religiösen gewesen.
Durch das Öffnen dieses Feldes hin zu einer positiven Bewertung des Sexuellen entstehen der Religion weitreichende neue Möglichkeiten. „Sexuelle Revolution“ im Christentum meint die Entdeckung der bejahten Sexualität als einem Aktionsfeld der religiösen Kreativität. Sie wird möglich, wenn über die Würdigung der eigenen sexualkritischen Tradition das Christentum sich zu sich selbst bekennt und sich selbst dann in neuen Formen überschreitet.
Der Blick zurück: Maria und die Befreiung von Sexualität
Will man zu den Ursachen für die Einstellungen einer so alten Institution wie der Kirche vordringen, muss man die zentralen historischen Weichenstellungen ausfindig machen. Für das Verhältnis des Christentums zur Sexualität ist da die Lehre von der jungfräulichen Empfängnis Jesu durch Maria maßgeblich, ein Motiv, das die Weihnachtsgeschichte prägt. Wir wollen die einmal beispielhaft aufzeigen, wie eine humanwissenschaftlich-historische Dogmenkritik aussehen könnte.
Maria sagte zu dem Engel: Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne? Der Engel antwortete: Der Heilige Geist wird über Dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden. (LK 1,34-35)
Was zunächst nur wie eine schöne Geschichte wirkt, hat doch das Weltverständnis des Abendlandes mitgeprägt. Die Lehre von der Jungfräulichkeit Marias bringt das Recht der Frau auf sexuelle Unversehrtheit zum Ausdruck. Das entfaltete in einer patriarchalen Gesellschaft eine ähnliche Kraft wie in den heutigen Gesellschaften die Erklärung der Menschenrechte. Jeder Mann, der in Versuchung war, sich an einer Frau sexuell zu vergehen, konnte an den Respekt Josefs vor Maria erinnert werden – wozu es in den häufigen Kriegszeiten mehr als genug Notwendigkeit gegeben hat. Zudem muss man wissen, dass Sexualität vor der Entwicklung wirksamer Verhütungsmittel für eine Frau mit dem Zwang zum dauernden Gebären und daher mit Unfreiheit und oft mit Unterdrückung verbunden war. Da wirkte das mit dieser Lehre verbundene Ideal der sexuellen Enthaltsamkeit befreiend, denn es eröffnete den Frauen die Möglichkeit eines relativ unabhängigen Lebens, frei von familiären Verpflichtungen. Eine Frau konnte sich auf Maria berufen und etwa in ein Kloster gehen, wenn sie trotz der allgemeinen Männerherrschaft keinen Mann wollte.
Innerhalb der christlichen Lehre war die Idee der Jungfrauengeburt wichtig um klar zu machen, dass mit dem Christentum die Unheilszusammenhänge der Menschheitsgeschichte durchbrochen wurden. Das Alte Testament ist voll von Kriegen und männlichen Rangstreitigkeiten, die immer wieder zu Mord und Totschlag geführt haben. Mit Jesus fängt nach christlichem Verständnis etwas völlig Neues an. Er erbt nicht das Unheil seiner männlichen Vorfahren, sondern als Sohn allein seiner davon unbelasteten Mutter – das meint die Lehre von der unbefleckten Empfängnis Marias – vermag er, die Enge und Selbstherrlichkeit „Adams“ hinter sich zu lassen. Das Christentum vollzieht damit einen ersten Schritt weg vom jüdisch geprägten Patriarchat hin zu einer gegenweltlich-matriarchalen Ordnung.
Den einzelnen Menschen bestärkte diese Lehre darin, sich frei von den Ansprüchen der Sexualität zu machen. Man muss nicht sexuell aktiv sein, um ein erfülltes Leben führen zu können. Man kann darauf verzichten und vertrauen, dass das Leben einen trotzdem fruchtbar werden lässt – ja vielleicht auch, so Gott will, gerade deshalb.
Die Botschaft von der Jungfräulichkeit Marias ist damit ursprünglich eine Befreiungsbotschaft gewesen – und sie ist es für manche Menschen noch heute. Sie bedeutet letztlich eine Botschaft der Befreiung vom Zwang zur Sexualität. Sie eröffnete gesellschaftliche Räume zur Entfaltung der Spiritualität. Die Jungfrauengeburt als unerklärliches Mysterium erscheint dabei wie ein kostbares, schön eingepacktes Geschenk. Wie es sein kann, dass eine Frau ohne Mitwirkung eines Mannes ein Kind empfängt, d.h. was genau die Verpackung enthält, wird nicht gesagt. Das war für die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der Botschaft in der Vergangenheit nicht nötig.
Der Blick nach vorn: Josef und die Befreiung zur Sexualität
Sehen wir uns heute das Geschenk an, so überzeugt die meisten dessen Etikett Jungfräulichkeit und das Ideal eines Lebens frei von Sexualität nicht mehr. Aufgrund der Entwicklung von wirksamen Verhütungsmitteln und aufgrund unseres heutigen Wissens über Psychologie, Geschichte und Biologie ist dieses Ideal den meisten nicht mehr vermittelbar.
So sehen wir heute, dass mit der Idealisierung der Enthaltsamkeit der sexuelle Akt und die körperliche Zeugung des Menschen abgewertet erscheinen. Psychologen wie Sigmund Freud haben nun aber bewiesen, dass eine dauerhafte Verdrängung der Sexualität zu massiven psychischen Problemen führen kann. Weil sie ein fundamentaler Teil des Menschen ist, der Mensch aber – als Mann und Frau geschaffen – das Abbild Gottes ist, muss sie als ein großes Geschenk des Schöpfers gewertet werden. Die hebräische Bibel tut das. Sie nennt die sexuelle Tätigkeit „Erkennen“ – und dabei schwingt mit, dass es bei der Sexualität sowohl um eine besondere Form der Wahrnehmung des anderen als auch um wechselseitige Anerkennung geht. Die positive Bewertung der Sexualität entspricht denn auch dem Bekenntnis der Bibel zur Güte der Schöpfung (Gen 1).
Weiter wird durch das klassische Verständnis der Jungfrauengeburt Josef zu einem Vater zweiter Klasse. Dass er ein Nachfahre Davids ist und damit den Anschluss des Christentums an die Generationenfolge des Judentums gewährleistet, wird zwar gleich am Anfang des Neuen Testaments durch Matthäus betont. Es bleibt aber bedeutungslos, wenn Josef nicht der leibliche Vater Jesu ist. Wie Maria für die christliche Kirche steht, so Josef für das Judentum. Mit der Abwertung Josefs geht denn auch die Abwertung des Judentums durch das Christentum einher. Dabei wissen wir heute, dass diese Abwertung im Laufe der Geschichte mit zur permanenten Ausgrenzung und periodischen Verfolgung von Juden geführt hat. Das Christentum vermochte eben leider nicht in dem Maße, die Unheilszusammenhänge zu durchbrechen, wie es sie durchbrechen wollte. Auch die christliche Geschichte ist von Mord und Totschlag gekennzeichnet – und dies in Bezug auf das Judentum als Kehrseite des Glaubens an die eigene Erwählung.
Abgesehen davon erscheint eine Zeugung ohne Beitrag Josefs für die meisten Menschen nicht mehr glaubwürdig, nachdem naturwissenschaftlich geklärt ist, was im Körper bei der Empfängnis vor sich geht. Sollte der Heilige Geist etwa wie ein Gentechniker in den biologischen Prozess eingegriffen haben? Wurde etwa der Fötus bloß aus der Eizelle gebildet – ohne männliches Erbgut?
Es ist hoffentlich klar, dass dieser Gedanke in die falsche Richtung führt. Er beruht auf zwei Missverständnissen.
Zum einen geht es bei der Erzählung von der Jungfrauengeburt darum zu belegen, dass eine alte Prophezeiung in Erfüllung gegangen ist. Sie steht dabei symbolisch zugleich für die Reinheit und Vollkommenheit der Empfängnis Jesu als eines vollkommenen Menschen als auch für die Größe und das Mysterium der menschlichen Empfängnis überhaupt. Darum ist es allerdings nicht unbedingt nötig, die jungfräuliche Empfängnis als eine asexuelle zu interpretieren. Die entsprechende Prophezeiung des Propheten Jesaja („Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen“, Jes 7,14) lässt sich auch sexuell verstehen indem eine Frau mit dem Verlust ihrer Jungfräulichkeit sofort schwanger wird – gleich beim ersten Mal. Weiter kann man das Wort Jungfrau auch einfach als einen Ehrentitel für die Akteurin eines makellosen Geschehens begreifen. „Jungfräulich“ könnte so, nachdem es lange für Reinheit von Sexualität gestanden hat – nämliche eine unfrei machende – umgekehrt auch für Reinheit durch Sexualität stehen – nämlich eine befreiende und verantwortlich gelebte.
Zum anderen beruht das wörtliche Verständnis auf einer falschen Vorstellung vom Wirken des Heiligen Geistes. Nach christlicher Lehre ist dieser der Geist der Befreiung, der den Menschen aus falschen Abhängigkeiten herausruft. Er hat es nicht nötig, auf biologischer Ebene als geheimnisvoller Gentechniker zu werken. Er wirkt, wenn Gott durch Menschen, die auf ihn hören, befreiend handelt. So wirkte er, als die Jünger Jesu, hauptsächlich einfache Fischer aus Galiläa, zum Auferstehungsglauben fanden und den Mut fassten, mit diesem Glauben die ganze bekannte Welt zu revolutionieren. Die Bibel stellt dieses Ereignis bildlich als das Brausen eines Sturms dar, der den Jüngern Feuerzungen brachte und ihnen damit ermöglichte, frei von Sprachbarrieren das Evangelium zu verkünden (Apg 2,1-13).
Wie aber ist dann das Wirken des Heiligen Geistes als Befreier bei der Empfängnis Jesu konsequent zu denken? Kann das Geschenk mit dem Etikett „Jungfräulichkeit“ ausgepackt werden, so dass ein Bild herauskommt, das das Mysterium der Empfängnis für uns heutige neu verdeutlicht und das mehr ist als die Freiheit vom Zwang zur Sexualität?
Ich schlage hierzu folgende alternative, „ausschmückende“ Lesart des Teils der Weihnachtsgeschichte vor, der von Matthäus erzählt wird. Die neue Lesart stellt die Empfängnis Jesu als Folge eines von Gott gewirkten Ereignisses der sexuellen Befreiung dar – einer Befreiung zur Sexualität. Sie nimmt dabei in Anspruch, dass der Evangelist nicht gewusst haben kann, was genau zwischen Maria, Josef und dem Heiligen Geist geschehen ist, und dass er nicht gewusst haben kann, was wir heute über die Bedeutung der Sexualität und die vom Christentum mitverschuldete Tragik der jüdischen Geschichte wissen.
Die Empfängnis Jesu durch den Heiligen Geist (Ausschmückung zu Mt 1,18-25)
Mit der Empfängnis Jesu Christi war es so: Maria, seine Mutter, war mit Josef verlobt. Noch bevor sie zusammengekommen waren, erzählte ihm Maria, dass sie ein Kind erwartete – durch das Wirken des Heiligen Geistes. Josef, ihr Mann, der gerecht war, und sie nicht bloßstellen wollte, beschloss, sich in aller Stille von ihr zu trennen. Während er noch darüber nachdachte, erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sagte:
Josef, Sohn Davids, fürchte Dich nicht, Maria als Deine Frau zu Dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist. Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst Du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen. Dies alles ist geschehen, damit sich erfüllte, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott ist mit uns.
Als Josef erwachte, tat er, was der Engel des Herrn ihm befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich. Er erkannte sie aber nicht, …
… denn er glaubte dem Engel und fürchtete sich, weil er eine Offenbarung erhalten hatte. So lebten sie eine Weile beisammen, bis Josef einsehen musste, dass seine Frau zwar auf ein Kind wartete – denn auch ihr war der Engel erschienen – leiblich aber nicht schwanger war. Und entgegen der Verheißung wurde sie es auch nicht. Maria und Josef waren ratlos, entschlossen sich aber, weiter in Enthaltsamkeit auf das Kommen des Heiligen Geistes zu warten. Denn auch das Volk Israel wartete geduldig auf den Messias.
Es verging einige Zeit, aber nichts geschah. Maria tröstete sich mit den Worten, die sie vor ihrer Verwandten Elisabeth bejubelt hatte und blieb sich ihrer Erwählung gewiss:
Meine Seele preist die Größe des Herrn
Und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.
Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.
Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.
Denn der Mächtige hat Großes an mir getan
Und sein Name ist heilig.
Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht
Über alle, die ihn fürchten. (Lk 1,46-50)
Josef jedoch wurde schwermütig. Er fühlte sich nicht mehr wie ein Nachkomme Davids, sondern musste vielmehr immer wieder an den Hetiter Urija denken. Mit dessen Frau Batseba hatte David im Ehebruch den späteren König Salomo gezeugt und, um es zu vertuschen, Urija mit Sonderurlaub zu seiner Frau nach Hause geschickt. Aber Urija, der auch nicht verstand, worum es ging, hielt sich aus Diensteifer und aus Furcht vor David von seiner Frau fern – mit der Folge, dass David ihn in den Tod schickte und Batseba zu sich nahm. Seine Enthaltsamkeit hatte ihm also nichts genutzt, sondern war sein Verderben gewesen. (2 Sam 11)
Über die Schwermut ihres Mannes grämte sich Maria. Sie liebte Josef über alles, wollte aber unbedingt auch das Wort festhalten, das sie dem Engel und der Engel ihr gegeben hatte. So rang in ihr die Liebe zu ihrem Mann mit dem Willen zur Treue gegenüber Gott – und das brachte sie an den Rand der Verzweiflung.
Nachdem sie so 100 Tage zusammengelebt hatten wurde die Situation unerträglich. In höchster Not betete Maria, dass Gott doch endlich den versprochenen Heiligen Geist schicken sollte! Daraufhin geschah folgendes: Es erhob sich ein Wind, der allmählich immer stärker wurde. Er brauste schließlich so stark, dass Maria Angst bekam und an die Worte denken musste, die sie gegenüber Elisabeth auch noch bejubelt hatte:
Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten:
Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind;
er stürzt die Mächtigen vom Thron
und erhöht die Niedrigen
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben
Und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er nimmt sich seines Knechtes Israel an
Und denkt an sein Erbarmen,
das was er unseren Vätern verheißen hat,
Abraham und seinen Nachkommen auf ewig. (Lk 1,51-55)
Während es auf das trockene Land zu regnen begann erwachten Marias Herz und ihr Verstand. Es schien ihr plötzlich so, als ob sie auf Ihrer Erwählung wie auf einem Thron gesessen und die Verheißung des Engels fast schon mit deren Erfüllung verwechselt hätte. Es wurde ihr klar, dass sich diese niemals würde erfüllen können, wenn nicht Josef aus seiner Niedrigkeit erhöht würde. Er war vor ihr wie ein Hungernder, und darum konnte der Wille Gottes nur geschehen, indem sie ihn mit ihren Gaben beschenkte. Josef war ein gerechter Israelit, ein Nachkomme Abrahams, ja ein Nachfahre Davids, und darum musste er an dem Versprechen des göttlichen Erbarmens Anteil haben. Maria hatte etwas erkannt – nun beschloss sie, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen.
Da blitzte und donnerte es. Der Wind, der zum Sturm angeschwollen war, stieß die Tür von Marias Zimmer auf und wehte eine größere Anzahl Pfingstrosen herein. Mit den Rosen trat auch Josef ein. Mit einem Kuss heilte ihn Maria von seiner Schwermut. Sie sprach zu ihm und erinnerte ihn daran, was der Engel gesagt hatte:
„Josef, Sohn Davids, fürchte Dich nicht, Maria als Deine Frau zu Dir zu nehmen!“ (Mt 1,20)
Da verstand er, dass er Maria zwar zu sich genommen, es aber aus Furcht bisher nicht gewagt hatte, sie ganz als seine Frau zu nehmen.
Und Maria und Josef erkannten einander. Endlich! Sie waren gebettet auf reiner Wolle zwischen den Rosen, die keine Dornen hatten. Einander ertastend, erriechend und erschmeckend erkannte jeder die Liebenswürdigkeit des anderen – und zugleich erkannten sie einander als gleichwertig an. Sie taten es nicht als Anmaßung oder im Ungehorsam, sondern weil der Heilige Geist, der der Geist der Liebe und der Befreiung ist, über Maria gekommen war und die Kraft des Höchsten sie überschattet hatte. Maria und Josef wurden ein Fleisch. Im Himmel läuteten die Glocken und die Engel priesen Gott, den Schöpfer. Der Sturm legte sich und es zeigte sich ein Regenbogen.
So wurde das Kind empfangen, das später Jesus heißen sollte. Es wurde empfangen als Nachkomme König Davids zu der Zeit, als Maria eine Jungfrau war; denn vorher hatte sie noch keinen Mann erkannt. Die Verheißung des Engels und der Propheten hatte sich erfüllt. Und weil seine Empfängnis durch den Heiligen Geist geschah, deshalb wird das Kind heilig und Sohn Gottes genannt. Und weil sie im Heiligen Geist geschah war sie frei von jeglicher Sünde – genau wie schon eine Generation vorher die Empfängnis der Maria. Und darum ist es auch erlaubt, Maria eine makellose, immerwährende Jungfrau zu nennen.
Moralische Fragen sind meines Erachtens unsere geringste Sorge. Und da Moral (nicht Ethik) vor allem eine Frage der Herrschaft über Körper und Köpfe ist, ist die Befreiung der Paarbeziehungen und der Sexualität vor allem eine Befreiung von Moral, nämlich, Herrschaftsmoral. Glücklicherweise verlieren die Kirchen an Macht. Nicht, dass ich glauben würde, dass wir im scheinbar weltanschaulich neutralen Kapitalismus frei wären in moralischen Fragen. Aber da Sexualität und Paarbeziehungen einander spiegeln, und sexuelle und Paarbeziehungen und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse einander spiegeln (wie auch jeder andere kulturelle Bereich die Lebensbedingungen spiegelt und gestaltet), sind die Lehrmeinungen von herrschaftlichen Institutionen (und dazu gehören Kirchen) immer unter dem Aspekt zu diskutieren, welchem herrschaftlichen Zweck die moralischen Vorschriften dienten und dienen. In kaum einem Bereich ist die Beobachtung, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, so eindeutig ablesbar wie hier. Schade, dass du darauf überhaupt nicht eingehst.
Es spielt keine Rolle. Die Weltanschauungsbeamten sind ohnehin mehrheitlich reform- und überhaupt gesprächsunwillig, vor allem die Straftäter unter ihnen. Bis die sich bewegen (dazu müssen sie gezwungen werden), ist mein Leben vorbei. In diesem Gebaren ähneln die Kirchen übrigens der Autoindustrie.
Ich rede nicht einer Verantwortungslosigkeit das Wort. Aber, ich sollte es mit meinem Gewissen, meinem Ethos, meiner Lernwilligkeit zu tun bekommen, wenn ich unverantwortlich handle und meine Familie verletze, und nicht mit einer Institution, zumal dieser.
Ganz abgesehen davon, dass es in meiner Welt nicht nur die katholische Kirche gibt. In deiner anscheinend schon.